Mutter von getötetem Kind: «Unser Leben ist zerstört» Von Dörthe Hein, dpa
Bei der Todesfahrt über den Magdeburger Weihnachtsmarkt kamen fünf
Frauen ums Leben und ein Neunjähriger. Über 300 Leute wurden
verletzt. Im Gericht kommen Betroffene zu Wort - und der Angeklagte?
Magdeburg (dpa) - Im Prozess gegen den Todesfahrer vom Magdeburger
Weihnachtsmarkt kommen immer mehr Betroffene zu Wort, schildern ihre
Erinnerung an den Tatabend und die Folgen, die sie bis heute
begleiten. Der Angeklagte folgte den Aussagen am elften
Verhandlungstag im Landgericht Magdeburg mit gesenktem Kopf, teils
versteckte er sein Gesicht. Keine Fragen, keine Anmerkungen von dem
ursprünglich so aktiven 51-Jährigen.
Die Mutter eines getöteten Neunjährigen sagte als Zeugin aus. Unter
Tränen, mit einem Kuscheltier vor sich und ihrem Partner an der Seite
berichtete sie, wie sie ihren Kindern 50 Euro in die Hand gedrückt
habe, damit diese allein über den Markt gehen konnten. Nachdem sie
den Anschlag mitbekommen habe, sei sie schreiend auf die Suche nach
dem Neunjährigen und seinem großen Bruder gegangen. Immer wieder
unterbrach die Zeugin ihre Aussagen, wendete ein Taschentuch hin und
her. «Unser Leben ist zerstört.»
Sichtschutzwände vor dem Angeklagten
Sie hatte sich gewünscht, dem Angeklagten im Gerichtssaal nicht ins
Gesicht sehen zu müssen. Deshalb wurden, als sie in den Raum kam,
kurzzeitig graue Sichtschutzwände aufgestellt vor der Glaskabine, in
der der Angeklagte während der Verhandlungen sitzt. Während der
Aussage der Mutter, die mit ihrer Familie in Niedersachsen lebt,
senkte der Angeklagte seinen Kopf so weit nach vorn, dass sein
Gesicht kaum noch zu sehen war.
Der Vorsitzende Richter, Dirk Sternberg, drückte der Zeugin seinen
großen Respekt dafür aus, dass sie die Kraft gefunden habe, vor
Gericht überhaupt etwas zu sagen. Es sei schwer, Worte für das zu
finden, was geschehen sei.
Am Vortag hatte eine Anästhesistin von den dramatischen Umständen vor
Ort berichtet und wie sie vergeblich versuchte, den
schwerstverletzten Jungen wiederzubeleben. Eine Rechtsmedizinerin,
die an der Obduktion beteiligt war, sagte als Sachverständige auf die
Frage, ob es eine Rettungsmöglichkeit für den Jungen gegeben hätte:
«Ich denke nicht.» Der Neunjährige ist eines von sechs Todesopfern.
Mit zwölf Tage altem Baby auf dem Weihnachtsmarkt davongerannt
Eine Reihe von Zeuginnen sagte an diesem elften Verhandlungstag aus.
Zu ihnen gehörte eine Frau, die während des Anschlags mit ihrem zwölf
Tage alten Baby auf dem Weihnachtsmarkt war. Sie habe das Kind aus
dem Kinderwagen gerissen und sei gerannt, berichtete sie. Sie habe
Angst gehabt, dass der ganze Weihnachtsmarkt in die Luft fliegt. Es
habe gedauert, bis sie realisierte, dass ihr großer Sohn und der
Vater noch auf dem Markt waren. Eine 45-jährige Fachschwester für
Anästhesie berichtete, wie sie sich um eine 12-Jährige mit einer
Kopfwunde kümmerte.
Ein 57 Jahre alter Mann, der mit seinem achtjährigen Sohn und seiner
Frau auf dem Weihnachtsmarkt war, beschrieb, dass das Fahrzeug wie
ein «Menschenpflug mit einer irrsinnigen Geschwindigkeit» durch die
Menschenmassen gefahren sei. Er habe gedacht, er sei drüber weg, aber
der Prozess wühle alles wieder auf. In Richtung des Angeklagten sagte
er, er habe kein Verständnis für alle seine Erklärungen für die Tat
.
«Es ist kein Grund, in einem Land, das sie aufgenommen hat, Leute
umzubringen oder schwer zu verletzen.»
Der ursprünglich sehr aktive Angeklagte schweigt
Der Angeklagte vermied während der Zeugenaussagen den Blickkontakt.
Zeitweise verbarg er sein Gesicht hinter einem Taschentuch. Ein
Nebenklageanwalt wies darauf hin, dass das Gesicht des Angeklagten
während der Verhandlung zu sehen sein muss, um etwa Reaktionen
erkennen zu können. Fortan senkte der 51-Jährige, der bis zur Tat als
Psychiater im Maßregelvollzug für psychisch kranken Straftätern
arbeitete, seinen Kopf. Er meldete sich auch wie schon am vorigen
Verhandlungstag nicht mehr zu Wort.
Zu Beginn des Prozesses hatte der 51-Jährige immer wieder zu langen
Ausführungen ausgeholt. Er hatte deutlich gemacht, dass er sich etwa
von Polizei und Justiz nicht ernst genommen fühlte, stellte sich als
Aktivisten für die Rechte saudischer Frauen dar. Einige Zeugen ging
er im Gericht teils massiv an, beispielsweise ehemalige
Arbeitskollegen und einen ehemaligen Anwalt. Bevor die ersten
Betroffenen als Zeugen aussagten, verabredete der Vorsitzende Richter
Sternberg mit den Angeklagten, dass dieser die Opfer nicht direkt
anspricht und befragt.
Am 20. Dezember lenkte der damals 50-jährige Taleb al-Abdulmohsen
laut der Generalstaatsanwaltschaft Naumburg den mehr als zwei Tonnen
schweren und 340 PS starken Wagen etwa 350 Meter weit über den
Weihnachtsmarkt. Der Mann aus Saudi-Arabien war mit bis zu 48
Kilometern pro Stunde unterwegs. Der Junge sowie fünf Frauen im Alter
von 45 bis 75 Jahren kamen ums Leben. Mehr als 300 weitere Menschen
wurden verletzt. Der Angeklagte hat die Tat zugegeben.
Der Prozess wird am 15. Dezember fortgesetzt.
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