Prozess nach Weihnachtsmarkt-Anschlag startet in Magdeburg Dörthe Hein und Marion van der Kraats, dpa
Er soll extra in Schlangenlinien gefahren sein, um möglichst viele
Menschen zu treffen. Sie hatten ahnungslos den Weihnachtsmarkt
besucht. Im Gerichtssaal begegnen sich Todesfahrer und Opfer wieder.
Magdeburg (dpa) - Konzentriert richten sich die Blicke auf den Mann
in einer extra gesicherten Glaskabine, während die Anklage den
Verlauf und die Folgen seiner Todesfahrt nachzeichnet. Fast elf
Monate nach dem Anschlag auf dem Magdeburger Weihnachtsmarkt mit
sechs Toten und mehr als 300 Verletzten hat der Prozess gegen Taleb
al-Abdulmohsen vor dem Landgericht Magdeburg unter starken
Sicherheitsvorkehrungen begonnen. Etliche Betroffene sind als
Nebenkläger in dem extra errichteten Interims-Gerichtsgebäude dabei.
Der 51 Jahre alte Angeklagte wurde mit einem Hubschrauber aus der
Haftanstalt Burg nach Magdeburg gebracht. Seit mehreren Tagen
befindet sich der aus Saudi-Arabien stammende Mann in der Obhut des
Justizvollzugs Sachsen-Anhalt. Davor hatte er mehrere Monate in
Berlin in Untersuchungshaft gesessen. Weitere Details nannte ein
Sprecher des Justizministeriums dazu nicht. Nach dpa-Informationen
wird al-Abdulmohsen jeweils zu den Prozesstagen geflogen.
Fotografen hielt der Angeklagte einen Laptop entgegen, auf dem
Bildschirm stand «#MagdeburgGate» und «Sept. 2026». Was dies bedeut
en
soll, war zunächst unklar. Äußerlich regungslos verfolgte der Mann
mit langem, grau melierten Bart dann in seiner Glasbox die Verlesung
der Anklage.
Nachdem Oberstaatsanwalt Matthias Böttcher und sein Kollege Marco
Reinl damit nach gut zwei Stunden fertig waren, kündigte
al-Abdulmohsen an, sich zu äußern. Dies werde «stundenlang,
vielleicht auch tagelang» dauern, erklärte der 51-Jährige.
Zum Schutz in Glasbox
Erfolglos kritisierte der Verteidiger den Sitzplatz hinter
schusssicheren Scheiben. Der Vorsitzende Richter Dirk Sternberg
betonte, der Platz sei wichtig zum Schutz des Angeklagten, er solle
so vor möglichen Racheakten geschützt werden.
Der 51-Jährige, der als Arzt im Maßregelvollzug mit psychisch kranken
Straftätern arbeitete, war kurz vor Weihnachten mit einem Mietwagen
über den Weihnachtsmarkt gerast.
Schlangenlinien, um besonders viele Personen zu treffen
Die Anklage wirft ihm unter anderem vollendeten Mord in sechs Fällen
und versuchten Mord in 338 weiteren Fällen vor. Oberstaatsanwalt
Böttcher vollzog in der Anklage den Weg des Angeklagten über den
Weihnachtsmarkt nach.
Zuerst erfasste Taleb al-Abdulmohsen Passanten, die an einer
Fußgängerampel warteten. Er lenkte den mehr als zwei Tonnen schweren
und 340 PS starken Wagen auf den Weihnachtsmarkt, etwa 350 Meter weit
und mit bis zu 48 Kilometern pro Stunde.
Aus einer «vermeintlich persönlichen Frustration» heraus sei es dem
Beschuldigten darum gegangen, eine «möglichst große Menge von
Personen» zu erfassen. Dafür sei er in Schlangenlinien gefahren, um
möglichst viele Personen zu treffen - um so die «von ihm gewünschte
Aufmerksamkeit zu erlangen», so Böttcher.
Herumfliegende Gegenstände und Körper
Der Todesfahrer überfuhr Menschen, andere wurden angefahren oder von
herumfliegenden Gegenständen oder Personen getroffen - teils ließ
sich das laut Generalstaatsanwaltschaft nicht mehr genau
nachvollziehen. Immer wieder war von Frakturen an Beinen und Hüften,
von Trümmerfrakturen, Schädel-Hirn-Traumata und schmerzhaften
Prellungen die Rede. Kinder waren unter den Opfern ebenso wie Frauen
und Männer. Eine Schwangere wurde so stark verletzt, dass die
Fruchtblase platzte, ein Tag später kam das Kind zur Welt.
Am Ende starben sechs Menschen, fünf Frauen im Alter von 45 bis 75
Jahren sowie ein neunjähriger Junge. Mehr als 300 Menschen wurden
verletzt oder traumatisiert. Sie kamen nicht nur aus Sachsen-Anhalt.
Unter den Betroffenen des Anschlags sind nach Angaben des
Bundesopferbeauftragten Menschen aus fast allen Bundesländern. Einige
kommen auch aus dem Ausland wie etwa Spanien, den USA und
Großbritannien.
Betroffene nehmen am Prozess als Nebenkläger teil
Rund 180 Betroffene und Hinterbliebene treten bislang als Nebenkläger
auf, vertreten durch etwa 40 Anwälte. Das Interims-Gerichtsgebäude
wurde errichtet, damit alle Betroffenen teilnehmen können. Der
Bundesopferbeauftragte Roland Weber sprach vor Prozessbeginn mit
anwesenden Betroffenen. «Mehrheitlich machen sie einen ruhigen und
gefassten Eindruck», sagte Weber am Rande des Verfahrens.
Viele Nebenkläger ließen sich zum Prozessauftakt aber auch von ihren
Anwälten vertreten und kamen nicht persönlich. Manchen ist eine
Teilnahme aus psychischen Gründen nicht möglich, wie es hieß. Andere
leiden noch unter körperlichen Beeinträchtigungen.
Das Verfahren gehört zu den größten der Nachkriegsgeschichte. Zum
Prozessauftakt reisten zahlreiche Medienvertreter aus dem In- und
Ausland nach Magdeburg an. Im Zuschauerbereich blieben jedoch
zunächst etliche der 100 Plätze frei.
Prozess unter hoher Sicherheit
Das Gebäude ist von einem Zaun mit Stacheldraht umgeben und
zusätzlich von mobilen Pollern geschützt. Eine Hundertschaft der
Polizei war im Einsatz, fast ebenso viele Justizbeamte aus
Sachsen-Anhalt sicherten nach dpa-Informationen den Prozessauftakt
ab. Trotz umfangreicher Sicherheitskontrollen begann die Verhandlung
nahezu pünktlich.
Das Landgericht Magdeburg hat bis zum 12. März 2026 zunächst knapp 50
Verhandlungstage angesetzt.
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