Erfolg für Mediziner-Klagen: Karlsruhe kippt Triage-Regeln Von Jacqueline Melcher und Sascha Meyer, dpa
Wie sollen Ärztinnen und Ärzte bei knappen Intensivbetten
entscheiden? Vor drei Jahren stellte der Bund Regeln auf. Das
Bundesverfassungsgericht sieht dort aber keine Regelungskompetenz.
Karlsruhe (dpa) - Wenn in Notlagen die medizinischen Ressourcen knapp
sind, müssen Ärztinnen und Ärzte teils die schwierige Entscheidung
treffen, wer zuerst behandelt wird. In der Corona-Pandemie stellte
der Bundestag für diese sogenannte Triage im Infektionsschutzgesetz
neue Regeln auf. Doch Intensiv- und Notfallmediziner sahen einen
Konflikt mit ihrem Berufsethos.
Am Bundesverfassungsgericht konnten sich einige von ihnen nun
erfolgreich gegen die gesetzlichen Vorgaben wehren. Der Erste Senat
gab zwei entsprechenden Verfassungsbeschwerden statt und erklärte die
angegriffenen Regelungen für mit dem Grundgesetz unvereinbar und
nichtig. Sie schränkten die Ärztinnen und Ärzte demnach in ihrer
Berufsfreiheit ein. Dem Bund fehle die Gesetzgebungskompetenz für die
Regelungen.
Was heißt Triage?
Das Wort Triage stammt vom französischen Verb «trier», das
«sortieren» oder «aussuchen» bedeutet. Es beschreibt, dass Ärztin
nen
und Ärzte in bestimmten Situationen entscheiden müssen, in welcher
Reihenfolge sie Menschen helfen. Das Konzept gibt es zum Beispiel bei
großen Unglücken mit vielen Verletzten, um meist eine kurzfristige
Notlage zu überbrücken. In der Corona-Krise war das Thema angesichts
voller Intensivstationen grundsätzlich in den Fokus gerückt.
Noch zu Pandemie-Zeiten beschloss der Bundestag 2022 eine Neuregelung
und kam damit einem Auftrag des Bundesverfassungsgerichts nach. Es
hatte 2021 entschieden, dass der Staat die Pflicht hat, Menschen vor
Benachteiligung wegen einer Behinderung zu schützen - zuvor gab es
dazu wissenschaftliche Empfehlungen. Das Gesetz legte fest, dass über
eine Zuteilung «nur aufgrund der aktuellen und kurzfristigen
Überlebenswahrscheinlichkeit» zu entscheiden ist - ausdrücklich nicht
nach Lebenserwartung oder Grad der Gebrechlichkeit.
Kritik der Ärztinnen und Ärzte
Eine der beiden Beschwerden gegen die Neuregelung war vom
Ärzteverband Marburger Bund unterstützt und 2023 von 14 Intensiv- und
Notfallmedizinern eingereicht worden. Sie richtete sich unter anderem
gegen das im Gesetz geregelte Verbot einer nachträglichen Triage («ex
post») - also, dass die Behandlung eines Patienten mit geringer
Überlebenswahrscheinlichkeit abgebrochen wird, um einen Patienten mit
besserer Prognose zu versorgen.
Der Marburger Bund kritisierte, den Ärztinnen und Ärzten werde die
Möglichkeit genommen, in einer Notlage die größtmögliche Zahl an
Menschen zu retten. Durch die Triage-Regelungen würden ihnen
Entscheidungen aufgezwungen, «die ihrem beruflichen Selbstverständnis
an sich widersprechen und sie in eklatante Gewissensnöte bringen»,
teilte der Verband 2023 zur Klage mit.
Grundgesetz schützt Berufsfreiheit
Das Bundesverfassungsgericht betonte in seiner Entscheidung die im
Grundgesetz geschützte Berufsfreiheit. Diese gewährleiste, dass
Ärztinnen und Ärzte frei von fachlichen Weisungen seien, und schütze
- im Rahmen therapeutischer Verantwortung - auch ihre Entscheidung
über das «Ob» und «Wie» einer Heilbehandlung.
Der Bund könne sich bei den Vorschriften nicht auf seine im
Grundgesetz verankerte Kompetenz zur Regelung von Maßnahmen gegen
übertragbare Krankheiten stützen, erklärte das Gericht. Diese gelte
nur für gewisse Maßnahmen, die sich auf die Eindämmung oder
Vorbeugung von Krankheiten richteten. Die Triage-Regeln knüpften
hingegen lediglich an die Auswirkungen einer Pandemie an, dienten
aber nicht der Pandemiebekämpfung.
Ärzteverband begrüßt Rechtssicherheit
Im Pandemie-Fall sei nicht notwendigerweise eine gesamtstaatliche
Verteilungsregelung erforderlich, so der Senat. Der Umstand, dass
eine bundeseinheitliche Regelung zweckmäßiger sein könnte als eine
Selbstkoordinierung der Länder, genüge für die Annahme einer
Kompetenz nicht. Nach der Kompetenzverteilung des Grundgesetzes seien
die Länder maßgeblich für diskriminierungssensible Verteilungsregeln
verantwortlich.
Der Marburger Bund begrüßte den Beschluss als «für die gesamte
Ärzteschaft höchst bedeutsame Entscheidung». Sie stärke die
verfassungsrechtliche Stellung der Ärztinnen und Ärzte und gebe ihnen
Rechtssicherheit auch für ihr Handeln in medizinischen Krisenlagen,
sagte die erste Vorsitzende Susanne Johna. «Sie zeigt auch, dass das
Bundesverfassungsgericht den ärztlichen Beruf als
eigenverantwortliche Profession versteht, deren Freiheit und Ethik
eine Grenze für staatliche Regulierung bilden.»
Bund will mit Ländern Schlüsse ziehen
Grünen-Gesundheitsexperte Janosch Dahmen sagte, das Urteil kläre
Zuständigkeiten zwischen Bund und Ländern - nicht aber, ob und wie in
Extremsituationen medizinisch entschieden oder gehandelt werden
solle. «Jetzt sind die Länder gefordert, diskriminierungssichere und
zugleich praxistaugliche Regelungen zu schaffen, die Rechtssicherheit
und ärztliches Ethos miteinander verbinden».
Auch nach der Entscheidung müsse festgestellt werden, dass der
Berufsfreiheit der Ärzte Grenzen gesetzt werden, sagte Eugen Brysch
von der Deutschen Stiftung Patientenschutz. «Die Verfassung verbietet
weiterhin, dass Alter, Pflegebedürftigkeit und Behinderung allein für
die Aufnahme und den Abbruch einer Behandlung maßgeblich sind.»
Bundesgesundheitsministerin Nina Warken betonte: «Wir brauchen
rechtssichere Regelungen in solchen Ausnahmesituationen für
Betroffene und für Ärztinnen und Ärzte». Die Schutzpflicht des
Staates gegenüber der Bevölkerung gelte ohne jegliche Einschränkung
auch für Menschen mit einer Behinderung, sagte die CDU-Politikerin in
Berlin. «Dieser Pflicht werden und müssen wir gerecht werden.» Die
Bundesregierung werde zusammen mit den Ländern die notwendigen
Schlüsse ziehen.
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