Wenn Ärzten Fehler passieren - «Spitze des Eisbergs» Von Helena Dolderer, dpa
Behandlungsfehler sind selten, können aber heftige Folgen haben.
Jährlich melden sich Tausende Patientinnen und Patienten mit
Vorwürfen. Fachleute prüfen sie und sprechen von einer hohen
Dunkelziffer.
Berlin (dpa) - Ein 86-jähriger Mann bekommt ein Medikament gespritzt
- und muss deswegen wiederbelebt werden. Eigentlich war das Mittel
für seinen Bettnachbarn gedacht, und eigentlich hätte es geschluckt
werden müssen. Solche und andere grobe Behandlungsfehler kommen in
Krankenhäusern und Praxen selten vor, können aber für die Betroffenen
gravierende Folgen haben.
134 Fälle solcher sogenannten «Never Events» hat der Medizinische
Dienst bei seinen Überprüfungen im vergangenen Jahr ermittelt. Das
geht aus dem Jahresbericht 2024 hervor, den die Gutachter der
Krankenkassen in Berlin vorstellten. Dabei geht es um besonders
folgenschwere und vermeidbare Behandlungsfehler. Neben der
Verwechslung von Patienten, Körperteilen oder Medikamenten gehören
auch Gegenstände dazu, die Ärztinnen und Ärzte nach Operationen
unbeabsichtigt im Körper zurücklassen.
75 Todesfälle nach Behandlungsfehlern
Im vergangenen Jahr stellte der Medizinische Dienst in rund 3.700
Fällen Behandlungsfehler fest. In rund 2.800 dieser Fälle (76
Prozent) erlitten Patientinnen und Patienten dadurch gesundheitliche
Schäden, ein Drittel davon seien dauerhaft. Zudem seien 75 Todesfälle
ermittelt worden.
«Tatsächlich weisen die Begutachtungszahlen auf ein immenses Problem
hin», sagte der Vorstandsvorsitzende des Medizinischen Dienstes Bund,
Stefan Gronemeyer, bei der Vorstellung der Statistik. «Fachleute
gehen davon aus, dass es jährlich circa 17.000 fehlerbedingte
vermeidbare Todesfälle in unseren Krankenhäusern gibt.» Denn eine
offizielle Statistik zu Behandlungsfehlern gibt es nicht, da diese in
Deutschland nicht zentral erfasst werden. Die Dunkelziffer sei
deutlich höher, sagte Gronemeyer.
Mangelnde Patientensicherheit kostet Milliarden
Der Medizinische Dienst fordert seit Jahren mehr Transparenz und eine
Meldepflicht von Behandlungsfehlern. Patientinnen und Patienten
sollten sich darauf verlassen können, dass sie von medizinischen
Fehlern erfahren, heißt es im Bericht. Zudem müssten
Gesundheitsfachkräfte die Möglichkeit haben, Zwischenfälle offen zu
berichten, ohne Sanktionen fürchten zu müssen.
Für Patientinnen und Patienten könnten durch Versehen Kosten
entstehen, etwa für erneute Untersuchungen oder Folgeoperationen.
Doch nicht nur das: «Zusätzlich zum Leid der Betroffenen kostet
unsichere Versorgung sehr viel Geld», sagte Gronemeyer. Der
Medizinische Dienst schätzt die Kosten für das Gesundheitssystem auf
mehrere Milliarden Euro. Eine Stärkung der Patientensicherheit müsse
gesetzlich verpflichtend umgesetzt werden.
Mehr als jeder vierte Verdacht bestätigt
Insgesamt erstellte die Expertenorganisation im vergangenen Jahr rund
12.300 Gutachten zu vermuteten Behandlungsfehlern. Mehr als jeder
vierte Vorwurf bestätigte sich demnach. In diesen Fällen wurde eine
medizinische Behandlung nicht angemessen, sorgfältig, richtig oder
zeitgerecht durchgeführt. In mehr als jedem fünften Vorwurf war das
Versehen auch ursächlich für einen Schaden.
Zwei Drittel aller Vorwürfe bezogen sich demnach auf Leistungen in
der stationären Versorgung, vor allem in Krankenhäusern (7.960
Fälle). Ein Drittel betraf den ambulanten Bereich, etwa Notaufnahmen
oder Praxen (4.312 Fälle).
Im vergangenen Jahr gab es laut Kassenärztlicher Bundesvereinigung
(KBV) rund 578 Millionen Behandlungsfälle. In Krankenhäusern wurden
nach Daten des Statistischen Bundesamtes von 2023 rund 17 Millionen
Behandlungen durchgeführt.
Fachleute sprechen von «Spitze des Eisbergs»
Die Deutsche Stiftung Patientenschutz nannte die Zahlen «nur die
Spitze des Eisbergs». Zudem fehle noch immer eine gelebte
Fehlerkultur in der ambulant-ärztlichen Versorgung und in den
Krankenhäusern. «Medizinische Einrichtungen brauchen aber ein
transparentes und lernendes System», sagte Stiftungsvorstand Eugen
Brysch. Dazu zählten manipulationssichere Patientenakten und eine
KI-gesteuerte Medikamentenausgabe.
Was tun bei Behandlungsfehlern?
Wenn Versicherte Fehler vermuten, können sie sich bei den
Krankenkassen oder bei Sachverständigen und Schlichtern der
Ärzteschaft melden. Diese geben dann medizinische und juristische
Gutachten in Auftrag. Für viele Menschen ist ein Gutachten laut
Medizinischem Dienst wichtig, um Klarheit zu erhalten, ob ein Fehler
Ursache für einen erlittenen Schaden war. Sie könnten unter Umständen
helfen, Forderungen nach Schadenersatz geltend zu machen.
Verbände sehen Lücken bei Patientenrechten
Der Sozialverband Deutschland (SoVD) nannte die neuen Zahlen ein
«ernstzunehmendes Warnsignal». Lücken bei Patientenrechten müssten
endlich geschlossen werden - unter anderem mit einer gesetzlichen
Pflicht zur Offenlegung von Fehlern und Sanktionen bei
Informationsverweigerung.
Nach Angaben der Allgemeinen Ortskrankenkassen (AOK) gehen viele
einem vermuteten Behandlungsfehler gar nicht nach. «Das hat auch mit
den hohen juristischen Hürden zu tun, mit denen die Betroffenen
konfrontiert sind», sagte die Chefin des Bundesverbands, Carola
Reimann. Oft sei es «extrem schwer», einen kausalen Zusammenhang
zwischen einem Fehler und einem entstandenen Schaden zu beweisen. Die
Beweislast müsse gesenkt werden.
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