«Ich lebe noch» - Medikamententests an Kindern in NRW-Heimen Von Dorothea Hülsmeier, dpa
Impfstoff-Versuche, Sedierungen, Todesfälle, Schweigen: Erschütternde
Erkenntnisse einer Studie zeigen, wie wenig Schutz Kinder in
NRW-Heimen jahrzehntelang hatten.
Düsseldorf (dpa/lnw) - Direkt nach der Geburt 1964 kam Thomas
Frauendienst in ein Heim in Volmarstein bei Hagen, auf die Station
für «Kinder zur besonderen Verwendung». Er war mit Fußfehlbildungen
und diversen körperlichen Behinderungen zur Welt gekommen, wie er
erzählt. Nach viereinhalb Jahren hätten die Ärzte ihn als apathisches
und unterernährtes Kind, das nicht sprechen konnte, in die Obhut der
Eltern zurückgegeben.
Als «Krüppelanstalt» sei das Heim verschrien gewesen, ein ehemaliger
NS-Arzt hatte dort das Sagen. Frauendienst trug die Nummer 2.033, wie
er später in den Akten herausfand. Dort war auch dokumentiert, dass
er allein in den ersten sechs Monaten seines Lebens 60 Mal operiert
und «mit Medikamenten vollgestopft» wurde. «Sie haben mich getreten,
sie haben mich beleidigt, sie haben mich hintergangen und in
Volmarstein auf das Grausamste misshandelt und vergewaltigt», sagt
Frauendienst. «Aber ich lebe noch.»
Zehntausende Menschen betroffen
Wohl Zehntausende Kinder in Heimen, Heilstätten, Kurkliniken und
anderen Einrichtungen in Nordrhein-Westfalen wurden zwischen 1946 und
1980 laut einer neuen Studie Opfer von missbräuchlichen
Medikamentenversuchen, Probe-Impfungen und zweifelhaften Operationen.
«Wir gehen von einem flächendeckenden Phänomen aus», sagte der
Düsseldorfer Medizinhistoriker Professor Heiner Fangerau bei der
Vorlage der Studie. «Wir stufen das Ausmaß als bedeutend ein.»
Die Studie wurde im Auftrag des NRW-Gesundheitsministeriums erstellt.
Demnach waren je nach Definition etwa 10 bis 25 Prozent aller in NRW
in den untersuchten Einrichtungen untergebrachten jungen Menschen
irgendwann in ihrer Kindheit und Jugend betroffen. Nach Schätzungen
seien rund 500.000 junge Menschen im Untersuchungszeitraum in den
Einrichtungen untergebracht gewesen, so Fangerau. Demnach könnten bis
zu 125.000 von ihnen Opfer von Medikamentenmissbrauch und anderen
zweifelhaften oder unnötigen Behandlungen gewesen sein.
Der systematische und oft routinemäßige Medikamentenmissbrauch war
demnach verflochten mit anderen Gewalterfahrungen. Die Verflechtung
mit Gewaltpraktiken und sexualisierter Gewalt war «umfassender als
vorab angenommen», so Fangerau. Viele Betroffene litten bis heute
darunter. Die Wissenschaftler stützten sich auf bisherige
Forschungsliteratur, untersuchten rund 4.000 Akten, forschten in
Archiven und führten Gespräche mit Betroffenen und Zeitzeugen.
Neuroleptika und Impfstoff-Versuche
Untersucht wurden unter anderem der Einsatz von Medikamenten in
Kinder- und Jugendpsychiatrien in Gütersloh, Hamm, Viersen-Süchteln,
im Wittekindshof bei Bad Oeynhausen und in der Hephata
Mönchengladbach. Verabreicht wurden den Kindern beispielsweise
Neuroleptika, aber auch Insulin, um sie ruhigzustellen.
«Die Gaben und Kombinationen konnten umfangreich sein», heißt es
weiter. Sowohl in Gütersloh als auch im Wittekindshof und der Hephata
sei es zu einzelnen Todesfällen gekommen, die mit einer umfangreichen
Medikamentengabe in Verbindung gestanden haben könnten. Die kausalen
Zusammenhänge ließen sich im Nachhinein aber nicht mehr feststellen.
Belegt wurden auch Versuche mit Impfstoffen an Kindern und
Jugendlichen etwa in Düsseldorf sowie Medikamententests in
Kinderheilstätten und Kurheimen etwa in Aprath bei Wuppertal, Bad
Oeynhausen, Godeshöhe bei Bonn und Bad Waldliesborn. In der einstigen
Tuberkulose-Heilanstalt Aprath wurde den Forschungen zufolge 1956 -
ein Jahr vor Markteinführung - auch das Schlafmittel Contergan
beziehungsweise dessen Wirkstoff Thalidomid getestet.
Auffällige Blinddarm-Operationen
Im Mädchenheim Tecklenburg wurden laut Studie bis Anfang der 70er
Jahre hormonelle Schwangerschaftstests vorgenommen. In einer
Einrichtung in Viersen-Süchteln seien sogenannte stereotaktische
Operationen, also Eingriffe am Gehirn, bei zwei Mädchen Anfang der
1970er Jahre auffällig. Eine «ungewöhnliche Häufung von
Blinddarmoperationen» habe es zudem im Mädchenheim Ratingen von 1949
bis 1952 gegeben. Hier stehe die Frage im Raum, ob es sich um
verdeckte Sterilisationen gehandelt haben könnte.
Die Information und Einwilligung der betroffenen Familien bei solchen
Tests habe in der Ärzteschaft «eine unbedeutende Rolle» gespielt, so
eine weitere Erkenntnis. Bis heute litten die Betroffenen an der
Unsicherheit, was ihnen eigentlich in der jeweiligen Einrichtung als
Kind widerfahren sei. «Für sie ist das Leid und Unrecht nicht
beendet, sondern wirkt bis in die Gegenwart nach.»
Betroffene zum Schweigen gebracht
Das Land NRW, die Landschaftsverbände LVR und LWL sowie die Kirchen
als Träger von Einrichtungen hätten ihre Aufsicht und Schutzpflichten
nur unzureichend wahrgenommen, konstatiert Fangerau. Es habe keine
unabhängigen Kontrollen gegeben. Wer Missstände benannte, sei nicht
gehört oder durch Drohungen zum Schweigen gebracht worden. Jahrzehnte
sei das Leid der Heimkinder im öffentlichen Diskurs unsichtbar
gewesen. Die Politik habe nur verzögert auf die Missstände und
Forderungen zur Aufarbeitung des missbräuchlichen
Medikamenteneinsatzes reagiert.
Inzwischen wurden nach Angaben von NRW-Gesundheitsminister Karl-Josef
Laumann (CDU) rund 10.000 betroffene ehemalige Heimkinder in NRW aus
zwei Fonds mit rund 100 Millionen Euro entschädigt.
Laumann bittet um Entschuldigung
Laumann bat die Betroffenen im Namen der Landesregierung um
Verzeihung. «Es tut mir unheimlich leid, was damals passiert ist»,
sagte er. «Das ist auf der Seele eines Menschen ein Fleck, der nicht
weggeht.» Der Staat habe die Aufgabe, dort besonders zu
kontrollieren, wo Menschen lebten, die sich nicht wehren könnten. Das
gelte für Kinder ebenso wie für demenzkranke Pflegeheimbewohner.
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