Kinder in NRW-Heimen jahrelang Opfer von Tests und Gewalt
Impfstoff-Versuche, Sedierungen, Todesfälle, Schweigen: Erschütternde
Erkenntnisse einer Studie zeigen, wie wenig Schutz Kinder in
NRW-Heimen jahrzehntelang hatten.
Düsseldorf (dpa/lnw) - Viele Kinder in Heimen, Heilstätten,
Kurkliniken und anderen Einrichtungen in Nordrhein-Westfalen wurden
zwischen 1946 und 1980 laut einer Studie Opfer von missbräuchlichen
Medikamententests. Es sei von einem «flächendeckenden Phänomen»
auszugehen, heißt es in der jetzt vorgelegten Studie einer
Forschungsgruppe um den Düsseldorfer Medizinhistoriker Professor
Heiner Fangerau.
Die vom NRW-Gesundheitsministerium in Auftrag gegebene Untersuchung
gibt erstmals einen umfassenden Überblick über das Ausmaß des
Missbrauchs. Fangerau sprach von einer «erschreckenden Vielfalt» des
missbräuchlichen Medikamenteneinsatzes. Der Studie zufolge waren je
nach Definition etwa 10 bis 25 Prozent aller in NRW in den
untersuchten Einrichtungen untergebrachten jungen Menschen irgendwann
in ihrer Kindheit und Jugend davon betroffen. Die Wissenschaftler
stützten sich auf bisherige Literatur, Archivstudien sowie auf
Gespräche mit Betroffenen.
Der systematische und oft routinemäßige Medikamentenmissbrauch war
demnach verflochten mit anderen Gewalterfahrungen. Die Verflechtung
mit Gewaltpraktiken und sexualisierter Gewalt war «umfassender als
vorab angenommen», heißt es in der Studie. Viele Betroffene litten
bis heute darunter.
Neuroleptika und Impfstoff-Versuche
Untersucht wurden unter anderem der missbräuchliche Einsatz von
Medikamenten in Kinder- und Jugendpsychiatrien in Gütersloh, Hamm,
Viersen-Süchteln, im Wittekindshof bei Bad Oeynhausen und in der
Hephata Mönchengladbach. Verabreicht wurden den Kindern
beispielsweise Neuroleptika, aber auch Insulin, um sie
ruhigzustellen.
«Die Gaben und Kombinationen konnten umfangreich sein», heißt es
weiter. Sowohl in Gütersloh als auch im Wittekindshof und der Hephata
sei es zu einzelnen Todesfällen gekommen, die mit einer umfangreichen
Medikamentengabe in Verbindung gestanden haben könnten. Die kausalen
Zusammenhänge ließen sich im Nachhinein aber nicht mehr feststellen.
Belegt wurden auch Versuche mit Impfstoffen an Kindern und
Jugendlichen etwa in Düsseldorf sowie Medikamententests in
Kinderheilstätten und Kurheimen etwa in Aprath bei Wuppertal, Bad
Oeynhausen, Godeshöhe bei Bonn und Bad Waldliesborn. In der einstigen
Tuberkulose-Heilanstalt Aprath wurde den Forschungen zufolge 1956 -
ein Jahr vor Markteinführung - auch das Schlafmittel Contergan
beziehungsweise dessen Wirkstoff Thalidomid getestet.
Auffällige Blinddarm-Operationen
Im Mädchenheim Tecklenburg wurden demnach bis Anfang der 70er Jahre
hormonelle Schwangerschaftstests vorgenommen. In einer Einrichtung in
Viersen-Süchteln seien sogenannte stereotaktische Operationen, also
Eingriffe am Gehirn, bei zwei Mädchen Anfang der 1970er Jahre
auffällig. Eine «ungewöhnliche Häufung von Blinddarmoperationen»
habe
es zudem im Mädchenheim Ratingen von 1949 bis 1952 gegeben. Hier
stehe die Frage im Raum, ob es sich um verdeckte Sterilisationen
gehandelt haben könnte.
Die Information und Einwilligung der betroffenen Familien bei solchen
Tests habe in der Ärzteschaft «eine unbedeutende Rolle» gespielt, so
eine weitere Erkenntnis. Bis heute litten die Betroffenen an der
Unsicherheit, was ihnen eigentlich in der jeweiligen Einrichtung als
Kind widerfahren sei. «Für sie ist das Leid und Unrecht nicht
beendet, sondern wirkt bis in die Gegenwart nach.»
Betroffene zum Schweigen gebracht
Das Land NRW, die Landschaftsverbände LVR und LWL sowie die Kirchen
als Träger von Einrichtungen hätten ihre Aufsichtsmöglichkeiten und
Schutzpflichten nur unzureichend wahrgenommen, konstatieren die
Wissenschaftler. Es habe keine unabhängigen Kontrollen gegeben. Wer
Missstände benannte, sei nicht gehört oder durch Drohungen zum
Schweigen gebracht worden. Betroffenen oder Angehörigen sei bei
Beschwerden nicht geglaubt worden.
Erst seit den späten 1960er Jahren sei ein zunehmendes
Problembewusstsein festzustellen. Aber noch heute müssten Betroffene
ihre Rechte gegen etablierte Strukturen und Organisationen
durchsetzen. Die Politik habe nur verzögert auf die Missstände und
Forderungen zur Aufarbeitung des missbräuchlichen
Medikamenteneinsatzes reagiert.
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