Anzeige gegen «endloses Leid»: Mehr häusliche Gewalt gegen Kinder Von Marco Krefting, dpa
Eigentlich steht die Familie für Geborgenheit und Vertrauen. Doch
immer wieder erleben Kinder ausgerechnet hier körperliche und
psychische Gewalt. Wie sich die Zahlen entwickeln und was man tun
kann.
Stuttgart/Karlsruhe (dpa/lsw) - Geschlagen, vergewaltigt, getötet -
und das von Menschen aus der eigenen Familie: Hunderte Kinder in
Baden-Württemberg werden Jahr für Jahr Opfer von Gewalt im familiären
Umfeld. Eine Übersicht:
Wie haben sich die Zahlen entwickelt?
1.989 Opfer im Alter bis 13 Jahren nennt der Sicherheitsbericht des
baden-württembergischen Innenministeriums für das Jahr 2024. Im
Vergleich zum Vorjahr war das ein Plus von fast neun Prozent. Aber
auch über mehrere Jahre betrachtet war es der höchste Wert. 2016
waren der Statistik zufolge 1.124 Kinder betroffen. Hinzu kamen im
vergangenen Jahr dem Ministerium zufolge 1.151 Fälle bei Jugendlichen
im Alter von 14 bis 17 Jahren (2023: 1.008 Fälle).
Dabei gilt es zu beachten: Wenn jemand innerhalb eines Berichtsjahres
mehrmals Opfer von strafbaren Handlungen geworden ist, wird er einem
Ministeriumssprecher zufolge in der Statistik mehrfach gezählt.
Was wird dabei erfasst?
Dafür gibt es bundesweit einheitliche Regeln. Es gehe vor allem um
Opfer von Straftaten gegen das Leben, die körperliche Unversehrtheit,
Freiheit und sexuelle Selbstbestimmung. Auch Versuche werden
gezählt.
Körperliche Verletzungen werden nach dem Grad ihrer Schwere erfasst.
Als schwer verletzt gilt man demnach, wenn man in einem Krankenhaus
stationär zur Behandlung aufgenommen wurde. Psychische Verletzungen
werden in der Polizeilichen Kriminalstatistik (PKS) hingegen nicht
erfasst.
Was weiß man über die Opfer?
13 Kinder wurden im vergangenen Jahr dem Bericht zufolge im Südwesten
von Angehörigen getötet. Sieben von ihnen seien ein Jahr alt oder
jünger gewesen. Unter Jugendlichen gab es demnach 2024 hier keine
Fälle. 870 von ihnen wurden aber Opfer von anderen
Körperverletzungsdelikten.
Bei Kindern gab es laut dem Sicherheitsbericht hier 1.213 Betroffene.
Im Vergleich zum Vorjahr sei dies ein Anstieg von mehr als sechs
Prozent. 367 Kinder seien sexuell missbraucht worden - in etwa so
viele wie im Vorjahr.
Mädchen werden dem Bericht zufolge mit einem Anteil von rund 53
Prozent etwas häufiger Opfer als Jungen. Im Bereich des sexuellen
Missbrauchs sei der Anteil mit knapp 80 Prozent allerdings deutlich
höher.
Was heißt familiäres Umfeld?
Hier ist die Stellung des Opfers beziehungsweise sein
familienrechtlicher Status gegenüber dem oder der Tatverdächtigen
maßgeblich. Zum familiären Bereich zählen unter anderem Eltern,
Großeltern und Geschwister, auch Pflege-, Adoptiv- und Stiefeltern
sowie Halbgeschwister. Aber auch beispielsweise Onkel, Tanten,
Cousins und Cousinen werden zum familiären Umfeld gerechnet.
Wie hoch ist die Dunkelziffer?
Schätzungen dazu, wie viele Fälle unentdeckt bleiben, enthält der
Bericht nicht. Diese seien auch aufgrund unterschiedlicher
Definitionen nur schwer zu erstellen, sagte Prof. Thomas Hillecke vom
Verein Behandlungsinitiative Opferschutz (Bios) in Karlsruhe. So
könne man auch Kinder als Opfer häuslicher Gewalt betrachten, die
zwar nicht selbst körperlich angegangen werden, aber mit ansehen
müssen, wie der Vater die Mutter schlägt.
«Gerade in Familien passiert viel, was durch die Familie gedeckt
wird», sagte Hillecke. Daher wäre es wichtig, dass sich zum Beispiel
Ärzte untereinander austauschen könnten. Hier sollte der Datenschutz
gelockert werden. «Ein gezielter Austausch ist in bestimmten Fällen
bereits heute möglich», schreibt das Sozialministerium auf eine
aktuelle Anfrage der Landtags-SPD hierzu.
Wiederum könnte eine steigende Zahl bekannter Fälle auch ein Hinweis
darauf sein, dass das Dunkelfeld kleiner werde, sagte Hillecke. Aber
das sei nur eine These.
Was passiert mit betroffenen Kindern?
In akuten Krisensituationen nehmen Jugendämter Kinder und Jugendliche
in Obhut und bringen sie in einer speziellen Einrichtung oder bei
geeigneten Personen unter. Im Jahr 2023 gab es nach aktuellsten
Zahlen des Statistischen Landesamtes 3.090 Fälle von dringenden
Kindeswohlgefährdungen. Das sei ein Plus von sechs Prozent im
Vergleich zum Vorjahr gewesen.
Zur akuten Betreuung können Betroffene zum Beispiel an eine
Traumaambulanz vermittelt werden. Bios könne Kinder ab vier Jahren
behandeln, sagte Hillecke.
An Gewaltambulanzen können sich Menschen wenden, die eine
gerichtssichere Dokumentation und Spurensicherung von
Verletzungsbefunden wünschen, nachdem sie körperliche und/oder
sexuelle Gewalt erfahren haben.
Ein generelles Problem ist dabei, dass es an Therapieplätzen mangelt.
Es fehle das nötige Fachpersonal und teilweise auch das Geld, sagte
Hillecke.
An wen können sich betroffene Kinder wenden?
Das Bundesjustizministerium gibt in einem Ratgeber für Jugendliche
Polizei und Jugendämter als Ansprechpartner an. Auch können Kinder
und Jugendliche zum Beispiel Vertrauenslehrer und -lehrerinnen oder
Gruppenleitungen in Vereinen ansprechen. Zudem können sie sich direkt
an Hilfsstellen wenden.
Das Modellprojekt Bios-Youngsters etwa ist montags bis freitags
zwischen 11.00 und 15.00 Uhr unter der Telefonnummer 0721 669 82089
erreichbar. Das Kinder- und Jugendtelefon des Vereins «Nummer gegen
Kummer» ist unter 116 111 montags bis samstags von 14.00 bis 20.00
Uhr erreichbar und garantiert absolute Anonymität. Auch per Mail oder
im Chat kann man sich beraten lassen.
Der Weisse Ring bietet täglich von 7.00 bis 22.00 Uhr über sein
Opfer-Telefon unter der kostenfreien Rufnummer 116 006 Hilfe an.
Betroffene können sich auch hier online anonym beraten lassen. Das
sind nur einige Beispiele.
Was kann ich tun, wenn ich einen Verdacht habe?
Der Malteser Hilfsdienst rät, Hilfsbereitschaft zu zeigen,
Unterstützung anzubieten und konkret nachzufragen («Kann es sein,
dass .?»). Zudem solle man aufzeigen, welche Hilfsmöglichkeiten es
gibt. Auch bei den Beratungsangeboten kann man sich telefonisch oder
online Tipps holen.
In einer Broschüre zum Opferschutz schreibt Landesinnenminister
Thomas Strobl (CDU): «Insbesondere bei Straftaten außerhalb der
Öffentlichkeit, beispielsweise bei sexuellem Missbrauch von Kindern
oder häuslicher Gewalt, ist eine Anzeige bei der Polizei meist die
einzige Möglichkeit, die Opfer und potenzielle weitere Opfer vor
endlosem Leid zu schützen.»
Was tut das Land?
Unter Federführung des Sozialministeriums fördert das Land in einer
ersten Phase des sogenannten Masterplans Kinderschutz landesweit
Projekte im Bereich der Prävention, Intervention und
Betroffenenarbeit. Daran anschließend wird derzeit in einem breiten
Beteiligungsprozess eine Gesamtstrategie für den Kinderschutz in
Baden-Württemberg erarbeitet, die den Kinderschutz als
gesamtgesellschaftliche Aufgabe in den Blick nimmt.
Der Verein Bios bietet laut Sprecherin Sabrina Sengle auch Hilfe für
Menschen an, die Angst haben, Täter zu werden. Dieses Angebot sei vor
kurzem erst für den Bereich häusliche Gewalt geöffnet worden.
Die SPD im Landtag brachte nach Worten eines Sprechers kürzlich einen
Gesetzesentwurf ein, der den Austausch von Informationen zwischen
Arztpraxen erleichtern soll. Denn Eltern wechseln mitunter den Arzt,
wenn es einen Verdacht auf Gefährdung des Kindeswohls gibt. Ihre
Zustimmung war bisher nötig, wenn der neue Arzt die Patientenakte vom
vorigen Kinderarzt anfordern will. Mit dem Gesetz wäre diese
Zustimmung nicht mehr erforderlich.
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