«Boah, Digga, ich komm' gar nicht klar» Von Elmar Stephan, dpa
Die Corona-Pandemie hat viele Kinder und Jugendliche tief geprägt.
Angststörungen, Depressionen, Lernlücken - gut 20 Prozent brauchen
heute noch Hilfe, schätzen Experten.
Neuenkirchen-Vörden (dpa/lni) - Julia (Name geändert) hat Spaß an
Konzerten, daran, sich mit Freunden zu treffen, auszugehen.
Eigentlich ist das alles ganz normal für eine 18-Jährige. Aber für
die junge Frau ist es überhaupt nicht selbstverständlich. All diese
Dinge musste sie erst mühsam lernen - als die Lockdowns der
Coronazeit vorbei waren und das Leben sich wieder normalisierte.
Julia hat inzwischen mehrere Therapien hinter sich, um selbstständig
zu werden. Eine weitere, schwere Therapie liegt noch vor ihr. Sie war
12, als die Pandemie nach Deutschland kam. Die ersten Meldungen von
dieser merkwürdigen neuen Krankheit waren noch weit weg. Aber dann
gehörte sie doch zu den ersten Verdachtsfällen in Deutschland für
Covid-19.
Leben änderte sich von Grund auf
Sie war auf einer Schulfreizeit zum Skifahren in den Alpen und bekam
hohes Fieber. Ihr Vater holte sie dort ab, fuhr mit ihr zurück nach
Norddeutschland. Zwei Wochen waren beide in Quarantäne. Am Ende hatte
weder ihr Vater noch sie selbst diese neuartige Krankheit, vor der
alle Angst hatten.
Aber das Leben änderte sich für Julia von Grund auf. Selbst
Wissenschaftler waren zutiefst verunsichert - diese Verunsicherung
wirkte sich auf die 12-Jährige in der Pubertät viel krasser aus als
auf Erwachsene.
Angst um Großeltern
Fast jede Woche gab es neue Regeln: Abstandsregeln, Regeln zum
Maskentragen, Vorschriften, mit wie vielen Menschen man sich unter
welchen Bedingungen treffen durfte. Auch die Übertragung des Virus
gab zuerst noch Rätsel auf.
«Ich hatte so eine Angst, dass ich meine Großeltern anstecken würde
und sie meinetwegen sterben müssen», erinnert sich die junge Frau
zurück. Ihre geliebten Großeltern sah Julia kaum noch, und wenn, dann
nur mit Maske.
Starke soziale Ängste aufgebaut
Überhaupt sollte die Maske in den kommenden Jahren noch eine wichtige
Rolle in Julias Entwicklung spielen. «Ich habe die Maske oft
aufgehabt, weil ich mich ohne sie nackt gefühlt habe», erzählt sie
heute. Sie habe das Gefühl gehabt, dass niemand Ihr Gesicht sehen
durfte. Sie wollte auch nicht herausgehen. «Ich habe starke soziale
Ängste bekommen, auch wenn ich draußen war», erinnert sie sich.
Julia war schon vor Ausbruch der Pandemie eher schüchtern,
zurückhaltend und ängstlich gegenüber Menschen, die sie nicht gut
kannte. Das verstärkte sich noch, als die Schulklassen geteilt wurden
und in Distanzunterricht gingen.
Kinder aus schwierigen Verhältnissen stärker betroffen
Psychisch erkrankt seien in der Coronazeit vor allem Kinder, deren
Situation schon vor der Pandemie schwierig gewesen sei und die von
ihrer Familie wenig Resilienz mitbekommen hätten, sagt Götz Schwope,
niedergelassener Psychotherapeut für Kinder und Jugendliche im
Landkreis Schaumburg und Vorstandsmitglied der
Psychotherapeutenkammer Niedersachsen.
Man dürfe allerdings nicht übersehen, dass 80 Prozent der Kinder und
Jugendlichen gut durch die Coronazeit gekommen seien. «Das heißt
nicht, dass es ihnen gut ging, aber sie sind nicht psychisch
erkrankt», sagt der Psychologe. Andererseits heißt das, dass 20
Prozent heute Hilfe brauchen.
Homeschooling war eine Katastrophe
Für Julia war das Homeschooling eine Katastrophe. Sie habe in der
Zeit gar nichts mehr gelernt. «Ich habe im Schlafanzug
Online-Unterricht gemacht und dann gesagt, mein W-LAN funktioniert
nicht, weil es einfach gar keinen Spaß gemacht hat.»
Irgendwann ging es wieder in die Schule, in den Präsenz-Unterricht.
«Da habe ich gemerkt, boah, Digga, ich komm' gar nicht klar.» Sie
habe unendlich viel Unterrichtsstoff verpasst. «Ich habe heute noch
Lücken, wo ich merke, okay, wow, das macht ihr in der achten Klasse -
davon habe ich nichts mitbekommen.»
Schnell Überforderung gemerkt
Sie habe den neu beginnenden Schulunterricht auch als Überforderung
wahrgenommen. Weil sie vorher so isoliert gelebt habe, sei sie mit
den vielen Reizen im Klassenzimmer nicht klargekommen. «Ich hatte
keine Freunde, weil ich ja keine kennengelernt hatte. In der Schule
hatte man sich ja nicht getroffen.»
Jürgen Gründkemeyer ist Chefarzt der Clemens-August-Jugendklinik in
Neuenkirchen-Vörden. Die Zahl der Patienten habe seit der Coronazeit
spürbar zugenommen, sagt er und spricht von einer unverarbeiteten
Belastungserfahrung. «Es gab viele Erfahrungen, die die Entwicklung
gebremst und blockiert haben», hat Gründkemeyer beobachtet.
Von Depression bis Selbstmordgefährdung
Die Probleme, mit denen er und seine Kolleginnen und Kollegen sich im
ganzen Land beschäftigen müssen, sind vielfältig: Sie reichen von
Essstörungen, Schulabsenzen, sozialen Ängsten, Depressionen, sogar
Selbstmordgefährdung, aber auch allgemeinen
Verhaltensauffälligkeiten.
«Wir sehen beispielsweise viele Jugendliche, die nicht mehr
klarkommen im Leben», sagt der Kinder- und Jugendpsychiater. Die
Pandemie mit ihren sozialen Folgen habe unter anderem die
Schülerinnen und Schüler hart getroffen, die in der Coronazeit
Umbruchzeiten erlebt hätten - wie Einschulung oder den Wechsel auf
eine weiterführende Schule.
Auch der Medienkonsum habe stark zugenommen, erklärt Psychotherapeut
Schwope. Von gut vier Stunden täglicher Mediennutzung vor der
Pandemie sei der Wert inzwischen auf Werte zwischen sechs und acht
Stunden geklettert. Schwere psychische Erkrankungen hätten deutlich
zugenommen. «Wir sind noch nicht wieder auf dem Niveau vor der
Corona-Krise.»
Mit Therapien ins Leben zurückgefunden
Auch die Erwachsenen hätten gerade zu Beginn der Corona-Pandemie
nicht gewusst, wie die Gefahr einzuschätzen sei. «Wenn ich Schnupfen
hatte, hatte ich Angst um meine Oma, vielleicht habe ich sie tödlich
angesteckt. Das sind Situationen, in denen Kinder und Jugendliche wie
Julia durch mussten, und auch wir Erwachsenen nicht sofort Antworten
fanden», erklärt der Arzt.
Julia musste in mehreren Therapien lernen, selbstständiger zu werden.
Die erste Zeit in der Klinik sei schwierig gewesen, sagt sie.
Alltägliche Dinge, wie Fremde etwas zu fragen, habe sie erst in der
Klinik gelernt. Gemeinsames Kartenspielen mit den anderen Mitgliedern
ihrer Gruppe habe ihr sehr geholfen.
Schlussfolgerung: Schule ist wichtig
Heute gehe es ihr viel besser. Sie könne inzwischen mit ihren Eltern
reden, die auch überfordert waren und nicht wussten, was sie mit
ihrem Kind machen sollten und Angst hatten, dass Julia komplett
verloren sein könnte.
Die Schlussfolgerung aus der Corona-Pandemie sei eigentlich, dass
Schule wichtig sei, sagt Gründkemeyer. «Es ist wichtig, mit vielen
Menschen in der Klasse zu sein, wichtig für den ganz normalen
sozialen Zusammenhalt. Da gibt es Menschen um mich herum, die ich
nicht zu fürchten brauche, mit denen kann man umgehen und Konflikte
lösen.» Das sei umso wichtiger für Kinder und Jugendliche in der
Lebensphase, in der sie sich von ihren Eltern lösen müssten.
Kinder und Jugendliche müssen sich treffen können
248 Tage seien die Schulen während der Coronapandemie geschlossen
gewesen, sagt Schwope. «Das war definitiv ein Fehler.» Falls es
wieder eine Pandemie gebe, sollte eine Lehre sein, dass Kinder und
Jugendliche sich auf jeden Fall treffen dürfen. «Wichtig ist auch,
dass wir Familien stärken», betont der Psychotherapeut. Es müsse
daher auch Angebote für die Eltern geben, wie diese mit einer so
überfordernden Situation gut umgehen.
Die Erfahrungen aus der Coronazeit werden sie wohl noch länger
verfolgen, sagt Julia. «Ich werde nicht den normalen Weg gehen
können, den andere Leute in meinem Alter gehen können, auch nicht in
ein paar Jahren, glaube ich.» Aber sie habe schon sehr viel erreicht.
«Das ist so schön, und ich wusste vorher nicht, dass es so schön sein
kann, rauszugehen und etwas mit Menschen zu machen.»
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