Schulangst überwinden: Wie ein Junge zurück in den Alltag fand Von Anja Sokolow, dpa
Wenn das eigene Kind Monate oder Jahre nicht zur Schule geht, kann
das eine schwere Belastung sein. Tanja Überall hat das mit ihrem Sohn
erlebt. Die Lösung war unkonventionell.
Fürstenfeldbruck/Berlin (dpa) - Sie wollen lernen und dazugehören,
doch schaffen es einfach nicht in die Schule: Kinder und Jugendliche
mit Schulangst. Tobias (Name geändert) aus Bayern ist einer von
ihnen. Ein ganzes Jahr lang konnte er das Schulgebäude nicht
betreten. Es fing schleichend an. «Etwa drei Monate konnte ich abends
kaum oder gar nicht einschlafen. Dann kamen die Sommerferien, und
danach ging gar nichts mehr», erinnert sich der 17-Jährige. Woher die
Angst kam, kann er sich nicht genau erklären.
Ein komplettes Schuljahr versäumt
Das war vor vier Jahren. Seine Mutter Tanja Überall erinnert sich gut
an die schwierige Zeit mit ihrem Pflegesohn: «Zuerst ist er noch
aufgestanden, und wir haben es geschafft, dass er ins Auto gestiegen
ist. Aber dann ist er an der Schule nicht aus dem Auto gestiegen.
Irgendwann war es so weit, dass man ihn gar nicht mehr zur Schule
gebracht hat.»
Die Belastung sei für alle Beteiligten groß gewesen: «Man spielt
alles durch, da probiert man es sanfter, mal weniger sanft. Da
entsteht sehr viel Druck, auch innerhalb der Familie. Es gab Tränen,
alles», sagt die Diplom-Pädagogin Überall. «Das Kind möchte
dazugehören und ist genauso verzweifelt wie man selbst.»
Und dann seien da noch die gut gemeinten Ratschläge der Großeltern.
Oder die Geschwister mussten immer wieder davon überzeugt werden,
dass sie in die Schule sollen, obwohl ihr Bruder zu Hause bleibt.
Vormittags half Tobias dann im Haushalt. «Nachmittags habe ich mich
mit Freunden getroffen, die von meinem Problem nichts wussten, denn
sie gehen in eine andere Schule», erzählt er. Auch er empfand die
Zeit als anstrengend: «Eigentlich wollte ich ja in die Schule und
etwas lernen.»
Verschiedene Ursachen für Schulangst
Schulangst ist ein Thema, das viele Familien in Deutschland kennen.
«Es ist im psychiatrischen Sinne aber keine Diagnose, sondern ein
Sammelbegriff für unterschiedliche Formen von Ängsten», sagt Heinrich
Ricking, der an der Universität Leipzig zu Schulabsentismus forscht.
Die Ursachen seien oft in der Schule selbst zu finden, etwa
Leistungsdruck, Angst vor dem Versagen oder Mobbing.
Aber auch familiäre Gründe können laut Ricking bei angstbedingter
Schulmeidung eine Rolle spielen. So kann Trennungsangst unter anderem
dazu führen, dass Kinder morgens nicht das Haus verlassen wollen,
weil sie sich nicht von der Bezugsperson, etwa der Mutter, trennen
können. Schulangst könne mitunter auch einhergehen mit einer
Depression, die den Antrieb der Betroffenen beeinträchtige. In
solchen Fällen schaffen es die Jugendlichen morgens nicht, aus dem
Bett zu kommen und zur Schule zu gehen.
Schulangst kann zum Lebensproblem werden
Dem Wissenschaftler zufolge weisen Statistiken darauf hin, dass im
Sekundarbereich - also ab der 5. Klasse - etwa drei bis fünf Prozent
der Schüler mit gewohnheitsmäßigem und chronischem Fernbleiben zu tun
haben. Die Folgen der Schulangst können gravierend sein. Laut Ricking
zählen dazu Leistungsabfall, kein Schulabschluss, schlechte
berufliche Perspektiven, soziale und psychische Probleme.
Aus einem schulischen Problem könne ein Lebensproblem werden. Zwar
sei die Aufmerksamkeit für das Thema gewachsen, zugleich werde aber
auch oft bagatellisiert.
Genaue Ursache der Angst bis heute unklar
Warum ihr Pflegesohn die Angst entwickelt hat, konnte nicht genau
geklärt werden, sagt Tanja Überall. Um ihre Erfahrungen zu teilen,
hat sie eine Selbsthilfegruppe gegründet. «Der Austausch für uns
Eltern ist extrem wichtig, da man ansonsten komplett allein gelassen
wird mit dem Thema», so die Mutter.
«Vielleicht hat es etwas mit meiner Vergangenheit als Pflegekind zu
tun», vermutet Tobias. «Als ich ein halbes Jahr alt war, wurde ich
von meiner Familie getrennt und kam in eine neue.»
Die Erfahrungen der Selbsthilfegruppe zeigen laut Tanja Überall, dass
eine genaue Ursache der Angst nicht auszumachen ist. Oft kämen
verschiedene Problemlagen zusammen.
Bei Störungen wie Schulangst sei es tragisch, dass sie oft unerkannt
blieben, so der Forscher Ricking. «Das sind die stillen Probleme. Sie
äußern sich stärker in Rückzug, in Ohnmacht, in Hilflosigkeit, in
Nichtsprechen, sich Zurückziehen aus sozialen Situationen.»
«Kinder mit Schulangst sind unter einem enormen Stress»
Eine Situation zu meiden, die Angst auslöst, sei eine normale
Strategie, sagt er. «Aber Schulen sollten Angstquellen eliminieren
oder ihre Schüler stärken, angstbelastete Situationen besser zu
bewältigen. Auch wenn Kinder die ganze Pause auf der Toilette
verbringen, um Mitschülern aus dem Weg zu gehen, kann das auf eine
Angstproblematik hindeuten», so Ricking. Oft gebe es Therapiebedarf.
In vielen Fällen sei eine Traumatherapie hilfreich, sagt die Mutter,
weil die das Kind erst einmal stabilisiere. «Kinder mit Schulangst
sind unter einem enormen Stress, es hat in dieser Situation die
höchste Priorität, diese Kinder zu stabilisieren», so ihre
Erfahrung.
Ein Lehrer mit unkonventioneller Idee
Für Tobias fand sich am Ende eine Lösung, die laut Forscher Ricking
in keinem Lehrbuch steht: «Von einem Lehrer kam der Vorschlag, mein
Sohn solle doch einfach beim Hausmeister mitarbeiten», erzählt Tanja
Überall. «So haben wir ihn überhaupt erst wieder ins Schulhaus
hineingebracht.»
«Ich war erst skeptisch, aber ich wollte wieder in die Schule»,
erinnert sich Tobias. Deswegen habe er es versucht.
Spachteln und Hecken schneiden statt Mathe und Deutsch
Etwa ein halbes Jahr lang standen für ihn statt Deutsch und
Mathematik praktische Dinge auf dem Tagesplan. «Ich habe Laub
gerecht, Rasen gemäht, Hecken geschnitten. Drinnen haben wir
Sicherungen geprüft, Probe-Feueralarm gemacht, Lichter ausgetauscht,
Löcher in den Wänden zugespachtelt oder auch die Werkstatt
aufgeräumt», erzählt Tobias. Die Arbeit habe ihm sehr geholfen.
Hausmeister als Rückhalt
«Für mich war er ein großer Gewinn. Tobias ist handwerklich sehr
begabt und scheut sich nicht vor der Arbeit», sagt Hausmeister Stefan
Ressler. Auch zwischenmenschlich habe es gepasst. Tobias wiederum
fand in dem Hausmeister eine Vertrauensperson: «Er ist ein Rückhalt,
mit dem kann man immer reden.»
Von der Idee, dass ein Schüler bei ihm mitarbeiten soll, war Ressler
zunächst überrascht. «Ich habe nicht viel nachgefragt, aber schon
versucht, ihn zu motivieren, wieder in den Unterricht zu gehen oder
mit den anderen in der Pause mal Fußball zu spielen», sagt er über
Tobias.
Nach und nach besuchte der wieder den regulären Unterricht. Zwei
Jahre nach Beginn des kompletten Aussetzens hatte er wieder in den
Schulalltag gefunden.
Pläne für die Zukunft
Tobias hat seinen Weg gefunden - und Pläne: «Ich möchte bald meinen
Abschluss machen und eine Ausbildung zum Landwirt machen.»
Gelegentlich hilft er dem Hausmeister noch bei Arbeiten. Und
manchmal, wenn ihm alles zu viel wird in der Schule, trinkt er mit
ihm einen Kaffee.
Laut Ricking können Lehrer und Schulen einiges tun, um ein angenehmes
Schulklima zu schaffen, damit Schulangst gar nicht erst entsteht:
«Sie sollten alles stärken, was Sicherheit und Klarheit stärkt und
unterstützt», so der Wissenschaftler mit Blick auf eine transparente
Tagesstruktur.
Außerdem sei es wichtig, dass Schulen gegen Mobbing und Gewalt
vorgehen und Initiativen fördern, die soziale Kompetenzen bei
Schülern stärken. Auch sollten Lehrkräfte aus seiner Sicht intensive
Beziehungen zu ihren Schülern aufbauen, sie zu Einzelgesprächen
einladen und sich erkundigen, wie es ihnen geht.
Solche Gespräche müssten gar nicht lange dauern, könnten aber wirksam
sein. Tobias rät anderen Schülern, ihr Selbstbewusstsein zu stärken,
in dem sie etwas lernen, was andere nicht können. Bei ihm sei es
Traktorfahren gewesen.
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