Warum höhere Sozialbeiträge immer mehr zum Problem werden Von Basil Wegener, dpa
Krankenkasse, Pflege, Rente: Das Älterwerden der deutschen
Gesellschaft treibt die Sozialbeiträge in bisher ungekannte Höhen.
Wie Union und SPD reagieren wollen - und was Ökonomen darüber denken.
Berlin (dpa) - Um mehrere hundert Euro verteuerte sich für viele
Menschen in Deutschland zum Jahreswechsel die Krankenversicherung.
Künftig dürfte die Beitragsspirale die Belastungen für Krankenkasse,
Rente und Pflege in immer größere Höhen schrauben. Was steckt hinter
der Entwicklung? Und wie bewerten Ökonomen den Umgang der sich
anbahnenden schwarz-roten Koalition damit?
Wie entwickeln sich die Krankenkassenbeiträge?
Schon zum Jahreswechsel kam es zu einer Erhöhung der Zusatzbeiträge
auf breiter Front. Zum allgemeinen 14,6-Prozent-Beitragssatz kamen
Anfang des Jahres Zusatzbeiträge von im Schnitt 2,9 Prozent. Die
Regierung hatte den amtlichen Orientierungswert dafür auf 2,5 Prozent
festgelegt - das waren bereits 0,8 Prozentpunkte mehr als 2024. Für
die kommenden zwei Jahre rechne er mit jeweils rund 0,2
Beitragssatzpunkten mehr, sagt der für seine Gesundheitsberechnungen
bekannte Essener Ökonom Jürgen Wasem.
Wie ist die Lage in den anderen Versicherungszweigen?
Der Pflegebeitrag war zum Jahreswechsel um 0,2 Punkte auf 3,6 Prozent
für Versicherte mit einem Kind gestiegen - und dürfte nach Erwartung
Wasems weiter nach oben gehen. Zu den Gründen zählen neben der
Demografie insbesondere auch Lohnsteigerungen bei den Pflegekräften.
2,6 Prozent sind es für die Arbeitslosenversicherung - trotz
Kostendrucks auch hier soll der Satz vorerst stabil bleiben. Über den
Rentenbeitragssatz wird heftig diskutiert: Wie lange bleibt er noch
bei 18,6 Prozent des Bruttogehalts?
Die Ampel hatte schon eine Rentenreform vor und taxierte den Beitrag
für 2035 dabei auf 22,3 Prozent. Wie bei der gescheiterten Reform der
Ampel-Regierung sieht auch der Koalitionsvertragsentwurf von CDU/CSU
und SPD vorerst ein stabiles Rentenniveau von 48 Prozent vor. Das
kostet Milliarden. Der Präsident des Deutschen Instituts für
Wirtschaftsforschung (DIW), Marcel Fratzscher, warnt bereits: «Wenn
der Beitragssatz wegen eines stabilen Rentenniveaus deutlich
ansteigt, dann nimmt die Wirtschaft in Deutschland Schaden.»
Was geschieht ohne Reformen mit den Beiträgen?
«In den nächsten 10 Jahren schlägt der demografische Wandel voll auf
die Sozialversicherungsausgaben durch», sagt der Mannheimer Ökonom
Nicolas Ziebarth. Die sogenannten Babyboomer verabschieden sich nun
aus dem Arbeitsmarkt. Dabei habe die Politik über Jahre ignoriert,
dass auch in der Krankenversicherung die Demografie-Effekte ähnlich
wie in der Rente enorm sind, kritisiert Gesundheitsökonom Wasem.
«Ältere Menschen brauchen im Schnitt drei bis vier Mal so viele
Leistungen wie jüngere.»
Das privatwirtschaftliche Forschungsinstitut IGES hat errechnet,
welcher Anteil vom Einkommen in den kommenden Jahren für die
Sozialsysteme fällig wird. «Wenn man grundlegende Trends (...)
fortschreibt, ergibt sich in zehn Jahren eine Gesamtbelastung durch
Sozialversicherungsbeiträge in Höhe von knapp 49 Prozent», sagt
IGES-Geschäftsführer Martin Albrecht, «mit einem Spektrum zwischen
knapp 46 bei günstiger und 53 Prozent bei ungünstiger Entwicklung.»
Heute sind es rund 42 Prozent.
Warum wiegen hohe Sozialkosten heute besonders schwer?
Sie können weniger als früher durch Wirtschaftswachstum kompensiert
werden. DIW-Präsident Fratzscher erwartet, dass Deutschland auch
wegen des Zollkonflikts mit den USA das dritte Jahr hintereinander
eine Rezession erlebt. Doch selbst wenn alles aktuell bestens laufen
sollte, sieht Fratzscher für die kommenden Jahre nur ein potenzielles
Wachstum von 0,3 Prozent. «Ein größeres Wachstumspotenzial hat die
deutsche Wirtschaft derzeit nicht mehr.»
Wasem erläutert: «Das Stück, das für die Kranken- und
Pflegeversicherung aus dem Wohlstandskuchen herausgeschnitten wird,
wird also immer größer - nur der Kuchen wächst nicht mehr.» Das
Wohlstandswachstum in Deutschland ist also begrenzt. Das Älterwerden
der Gesellschaft ist auch hierfür ein Grund, nicht nur für die
steigenden Sozialkosten. Denn es gibt zugleich weniger Jüngere, und
somit stehe ein «starker Rückgang der Beschäftigung in Deutschland»
bevor, so Fratzscher. Künftig brauchen also mehr Menschen Leistungen
- doch weniger erwirtschaften Wachstum.
Wie reagiert die Koalition auf die zugespitzte Lage?
Aus Sicht der Ökonomen enttäuschend. Etwa bei Pflege und Gesundheit
sollen erst einmal Kommissionen eingesetzt werden. Von diesen erwarte
er nicht viel, sagt Ziebarth vom Zentrum für europäische
Wirtschaftsforschung (ZEW). «Die ideologischen Unterschiede (...)
sind zu groß.» Die Union wolle im Grundsatz mehr Eigenbeteiligung,
also dass Versicherte mehr selbst beitragen. Die SPD wolle hingegen,
dass Wohlhabende mehr einzahlen.
Fratzscher sagt: «Unser Sozialstaat wird derzeit von Jahr zu Jahr ein
Stück weniger generationengerecht.» Immer stärker werde von Jung zu
Alt umverteilt. «Der Koalitionsvertrag verschärft das Problem:
Anstelle von Vorschlägen zu einer Begrenzung des künftigen
Beitragsanstiegs gibt es hier teure Versprechungen wie beispielsweise
ein stabiles Rentenniveau und eine ausgeweitete Mütterrente», sagt
Fratzscher. «Offensichtlich wollen weder Union noch SPD ihre
Wählerinnen und Wählern mit irgendwelchen Zumutungen belästigen.»
Aus Sicht des Sozialverbands VdK muss die neue Regierung dafür
sorgen, dass Aufgaben, die die gesamte Gesellschaft betreffen, auch
von ihr bezahlt werden - also aus Steuergeld und nicht aus den Töpfen
der Sozialversicherungen. So müssten nach einer eigenen Berechnung
Maßnahmen für jährlich 70 Milliarden Euro eigentlich aus dem
Bundeshaushalt bezahlt werden - die Beiträge für Arbeitgeber und
Arbeitnehmer könnten so zusammen um 4,19 Prozent sinken, rechnet der
Verband vor.
Was sind die Folgen hoher Beiträge?
«Hohe Sozialabgaben hemmen den privaten Konsum, der mehr als die
Hälfte zur Wirtschaftsleistung beiträgt», sagt Fratzscher. «Wenn di
e
Menschen in Deutschland nicht wieder mehr ausgeben, wird nachhaltige
konjunkturelle Erholung kaum gelingen.»
Ziebarth meint: «Die steigenden Sozialbeiträge sind heute eine der
drängendsten Herausforderungen für die deutsche Wirtschaft.»
Und wie sehr hemmen hohe Beiträge die Unternehmen konkret? Ziebarth
sagt: «Studien legen nahe, dass pro Sozialbeitragssatzpunkt mit
50.000 bis 100.000 Arbeitsplätzen weniger pro Jahr zu rechnen ist.»
Das sei aber nur ein Annäherungswert.
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