Warum die Forschung weiter auf Tierversuche setzt

Mehr als eine Million Mäuse, Fische, Kaninchen oder auch Affen werden
jedes Jahr in Versuchen eingesetzt. Ist das noch zeitgemäß? Gibt es
einen Ausstiegsplan? Antworten zum Tag des Versuchstiers.

Berlin (dpa) - Ob es um Medikamente gegen Brustkrebs geht, um
jährlich millionenfach eingesetzte Narkosemittel oder um Impfstoffe
gegen Corona: Sie alle wurden mit Hilfe von Tierversuchen entwickelt.
Doch die biomedizinische Forschung ohne Tiere entwickelt sich weiter,
neue Hightech-Methoden kommen hinzu - was Forderungen lauter werden
lässt, auf Tierversuche zu verzichten.

Wo steht die Wissenschaft dazu heute? Ist ein Ausstieg aus der
Forschung mit Tieren überhaupt vorstellbar? Fragen und Antworten zum
Internationalen Tag des Versuchstiers am 24. April.

Mal von Anfang an: Wozu gibt es Tierversuche überhaupt?

«Forschung arbeitet zwangsläufig mit Modellen, so auch die
biomedizinische Forschung», erläutert Stefan Hippenstiel, Professor
für Infektiologie und Pneumologie an der Charité in Berlin. In der
Humanmedizin könne man bestimmte Dinge aus ethischen und praktischen
Gründen nicht untersuchen - und greife deswegen zum Tiermodell. 

Roman Stilling von der Initiative «Tierversuche verstehen» ergänzt,
dass es zwar Alternativen gebe wie Computer-Simulationen und
3D-Zellkulturen. Aber wenn es um das Zusammenspiel im Körper gehe,
etwa die Erforschung von Nervensystem oder Immunsystem, dann stießen
diese an Grenzen. «Diese Prozesse sind zum Großteil noch
unverstanden, das muss man leider sagen.» Deswegen seien dafür
Tierversuche nötig.

Gaby Neumann vom Verein «Ärzte ohne Tierversuche» hält dagegen:
«Tierversuche sind eine sehr veraltete Methode.» Die Forschung tue
sich schwer mit neuen Methoden, weil Tierversuche eine lange
Tradition hätten und junge Forschende kaum in tierversuchsfreien
Verfahren ausgebildet würden.

Wofür werden Versuchstiere eingesetzt?

Die meisten Tiere werden für die Grundlagenforschung und angewandte
Forschung genutzt, andere für Qualitätskontrolle und
Giftigkeitsprüfungen. Das geht aus dem «Kompass Tierversuche» hervor.

So wurden etwa die Sicherheit und Wirksamkeit der ersten
mRNA-Impstoffe in Europa gegen das Coronavirus an Tieren überprüft. 


Die Zahl der eingesetzten Tiere in Deutschland sinkt laut dem
Bundesinstitut für Risikobewertung seit einigen Jahren. 2023 waren es
rund 2,13 Millionen Wirbeltiere und Kopffüßer. Mit Abstand am
häufigsten waren es Mäuse (circa 1,64 Millionen), aber auch
Zebrafische (142.000), Kaninchen (68.000), Haushühner (14.000) und
Schweine (11.000). 

Wie ist das mit Affen?

Auch Affen werden verwendet, aber deutlich seltener. Vor allem
handelte es sich zuletzt um Javaneraffen (1.479), Marmosetten und
Tamarine (159) sowie Rhesusaffen (87). Mit Abstand häufigster
Versuchszweck ist bei Affen, neue Arzneimittelkandidaten zu testen,
ehe sie erstmals Menschen gegeben werden. Dabei geht es vor allem um
mögliche Nebenwirkungen bei wiederholter Gabe sowie um mögliche
Schäden während der Entwicklung eines Kindes im Mutterleib. 

Menschenaffen - also Schimpansen, Bonobos, Gorillas und Orang-Utans -
werden in der Europäischen Union nicht für Tierversuche gezüchtet
oder gehalten. Laut Stilling dürften Versuche an Menschenaffen
weltweit eingestellt worden sein.

Wann könnte es mit den Tierversuchen insgesamt vorbei sein?

Die EU hat im Jahr 2010 das Ziel ausgegeben, Tierversuche
schrittweise und letztlich vollständig zu ersetzen. Einen
Ausstiegsplan gibt es aber nicht. Viele Forschende und
Forschungseinrichtungen argumentieren, Tierversuche sollten erst dann
durch tierversuchsfreie Methoden abgelöst werden, wenn es
wissenschaftlich möglich ist.

In einem aktuellen Schritt werden etwa bestimmte Medikamententests,
die sogenannten Kaninchen-Pyrogentests, zum 1. Juli komplett durch
tierfreie Alternativen ersetzt. Kaninchen wurden bisher eingesetzt,
um zu testen, ob Arzneimittel mit Substanzen verunreinigt sind, die
Fieber auslösen können. 

Die Europäische Bürgerinitiative (EBI), die mehr als 1,2 Millionen
Unterschriften sammelte, forderte unter anderem einen Masterplan zum
Ausstieg aus Tierversuchen mit konkreten Zielvorgaben. Die
EU-Kommission antwortete, sie habe in den vergangenen 20 Jahren mehr
als eine Milliarde Euro in die Entwicklung, Validierung und
Einführung von Alternativen zu Tierversuchen investiert.

Was wäre, wenn Deutschland eigenständig ein Verbot beschließen würd
e?

Die zuständige Kommission der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG)
erklärte 2022 in einem Thesenpapier: «Ein grundsätzliches Verbot von

Tierversuchen bewirkt nicht gleichzeitig das Ende der Notwendigkeit
von Tierversuchen.» 

Dann seien Forschende in Deutschland von der biomedizinischen
Forschung in anderen Ländern abhängig. Dort habe man keinen Einfluss
darauf, wie es den Versuchstieren geht.

Wie werden Versuchstiere gehalten?

Mäuse etwa leben oft in einer Box mit Einstreu. Dazu bekommen sie ein
Papierpaket mit Holzwolle und anderen Materialien, sodass sie ein
Nest bauen können, ebenso eine Rolle und Spielmaterial. Kaninchen
bekommen die Möglichkeit herumzuhoppeln.

Die Haltungsbedingungen seien etwa bei Schweinen und Schafen in der
Forschung besser als in der konventionellen Landwirtschaft, sagt
Stilling von der Initiative «Tierversuche verstehen». «Da wird sehr
genau auf Hygiene und Fütterung geachtet.» Neumann von «Ärzte ohne

Tierversuche», die Tierärztin ist, ergänzt, dass es zwar sehr um
Hygiene und Praktikabilität gehe, aber die Lebensbedingungen nicht
artgemäß seien.

Forscher Hippenstiel sagt: «Niemand hat so ein hohes Interesse daran,
dass es den Tieren gutgeht, wie die Forschenden, die die Tierversuche
durchführen.» Denn sie seien auf eine gute Haltung angewiesen, damit
es bei den Ergebnissen keine Verfälschungen gibt. Hippenstiel ist
auch Sprecher von Charité 3R, dessen Ziel darin besteht, die
Umsetzung des 3R Prinzips - also Tierversuche zu ersetzen (Replace),
die Anzahl der Versuchstiere zu reduzieren (Reduce) oder die
Belastung für Versuchstiere zu mindern (Refine) - in Forschung und
Lehre an der Charité zu stärken.

Gibt es eigentlich Bereiche, in denen Tierversuche verboten sind?

Ja, um Kosmetika und Waschmittel zu entwickeln, dürfen keine Tiere
eingesetzt werden. «Die Leitidee ist: Wir wollen kein Tierleid für
Luxus», sagt Stilling. Allerdings können im Zuge des Arbeitsschutzes
Tierversuche angeordnet werden. 

Auch ist es nicht zulässig, Tiere zu verwenden, um Waffen und
Munition herzustellen und zu erproben. Das Gleiche gilt für
Tabakerzeugnisse. Doch um die Gefahren, die davon ausgehen, zu
erforschen, finden laut Neumann noch Tierversuche statt. So müssten
Tiere bei Rauchversuchen stundenlang Zigarettenrauch einatmen.

Wenn die Tiere getestet wurden, was passiert dann mit ihnen?

Die meisten Tiere werden nach den Versuchen getötet, um Organe zu
entnehmen und zu untersuchen. Normalerweise werden die Körper dann
verbrannt. Mäuse können nur dann als Futter etwa für Raubvögel an
Zoos und Tierparks abgegeben werden, wenn sie nicht gentechnisch
verändert wurden - doch genau das trifft auf einen Großteil zu. Die
EU-Gentechnik-Verordnungen erlauben dann eine Verfütterung nicht.

«Tiere wie Katzen, Hunde, Affen werden häufiger mehrfach für
verschiedene Tierversuche eingesetzt. Ein Affe kann mehrere
Jahrzehnte genutzt werden», erklärt Tierärztin Neumann. «Nur in
wenigen Ausnahmefällen werden Tiere aus dem Labor vermittelt.» 

Neumann weist auch auf sogenannte Überschusstiere hin, die zum
Beispiel nicht die nötige Genveränderung aufwiesen. Diese werden
gezüchtet, können aber nicht verwendet werden. 2023 waren das 1,38
Millionen Tiere. Diese werden laut Neumann direkt getötet.

Warum werden für Versuche vor allem Mäuse verwendet?

Das hat vor allem praktische Gründe. Ihre Haltung ist nicht so
aufwendig wie die von Großtieren - sie sind günstig und gut zu
handhaben. Außerdem pflanzen sie sich sehr schnell fort. 

Hinzu kommt die Gewohnheit: Weil schon so lange an Mäusen geforscht
wird, haben Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler viele Daten und
viele molekulare Werkzeuge für diese Forschung. Und nicht zuletzt:
Man fand früh heraus, wie man Mäuse genetisch manipulieren kann.

Sind Tierversuche auf Menschen übertragbar und wo gibt es da Grenzen?

Viele Funktionen seien in Mäusen sehr ähnlich, sagt Stilling. «Eine
Maus ist auch ein Säugetier und hat größtenteils die gleichen Organe

wie ein Mensch.» Unter dem Mikroskop könne man eine Maus-Nervenzelle
nicht von einer menschlichen Nervenzelle unterscheiden.

«Trotzdem sind Menschen keine 70 Kilogramm schweren Mäuse», sagt er.

Sie unterschieden sich nicht nur in der Größe, sondern etwa auch im
Stoffwechsel. «Das ist den Forschenden durchaus bewusst.» Das
Mäuse-Modell sei nur ein Abbild - und deswegen nie zu 100 Prozent
korrekt. «Das gilt für alle Modelle - nicht nur für Tierversuche.
Deswegen kombiniert man verschiedene Methoden.»

Was sind die Alternativen, und wo stehen wir da? 

Tierversuchsfreie Methoden gewinnen an Bedeutung, darunter
Organchips, Zellkulturen und computergestützte Modelle. «Zum Beispiel
verwenden wir eine Alternativmethode aus künstlichen menschlichen
Herzmuskelzellen», sagt Charité-Forscher Hippenstiel. «Damit kann man

untersuchen, wie sich Medikamente auf Herzmuskelzellen auswirken.
Aber die Methode ist völlig ungeeignet, um zu zeigen, wie sich eine
mitwachsende Herzklappe verhält.» Dazu sei ein Großtier nötig, das

leben und wachsen müsse.

Außerdem werden vermehrt Mini-Organe gezüchtet, an der Charité etwa
Mini-Lungen. «Die sind noch nicht perfekt, sie haben keinen
Blutkreislauf, atmen nicht, bewegen sich nicht, dort können keine
Zellen aus anderen Organen einwandern», sagt er. Als Modell seien die
Mini-Organe für bestimmte Forschung gut - und für andere eben nicht.

Neumann von «Ärzte gegen Tierversuche» hingegen meint: «Das Potenzi
al
dieser modernen Methoden ist enorm. Und der entscheidende Vorteil zum
Tierversuch ist, dass sie auf menschlichen Daten und Zellen basieren.
Also für den Menschen relevante Ergebnisse liefern.»

Einig sind sich die verschiedenen Ärzte und Wissenschaftler darin,
dass 3D-Humanmodelle und Stammzelltechnologien zunehmend wichtiger
werden. In solche technischen Innovationen sollte viel mehr
investiert werden, meinen sowohl Hippenstiel als auch Neumann.
Derzeit werde zu wenig Geld bereitgestellt, um die Forschung rasch
voranzutreiben.

Online-Wechsel: In drei Minuten in die TK

Online wechseln: Sie möchten auf dem schnellsten Weg und in einem Schritt der Techniker Krankenkasse beitreten? Dann nutzen Sie den Online-Beitrittsantrag der TK. Arbeitnehmer, Studenten und Selbstständige, erhalten direkt online eine vorläufige Versicherungsbescheinigung. Die TK kündigt Ihre alte Krankenkasse.

Jetzt der TK beitreten





Zur Startseite