Magersucht, soziale Angst: Spuren der Pandemie bei Jugend Von Yuriko Wahl-Immel, dpa

Ängste, Depressionen, Essstörungen: Beschränkungen der Coronazeit
zeigen weiter Folgen für viele Kinder und Jugendliche. Wie steht es
fünf Jahre nach dem ersten Lockdown um ihre psychische Gesundheit?

Aachen/Frankfurt am Main (dpa) - Binnen Wochen verliert Anna gut zehn
Kilo, sie friert ständig, hat Haarausfall, die Füße schlafen ein.
«Sie war immer schon schlank, ist dann aber wirklich sehr dünn
geworden, hat kaum noch gegessen», erzählt die Mutter über ihre
damals 17-jährige Tochter. «Es ging ihr schlecht. Sie wusste, es
stimmt etwas nicht, sie brauchte Hilfe.» 

Dann sei es glücklicherweise schnell gegangen: Eine Klinik für
Kinder- und Jugendpsychiatrie im Rheinland diagnostizierte
Magersucht. Einige Wochen später wurde Anna stationär aufgenommen. 

Kinder und Jugendliche leiden auch in Nach-Pandemiezeit 

Fünf Jahre nach dem ersten Corona-Lockdown im März 2020 haben die
Beschränkungen noch immer bei vielen Kindern und Jugendlichen tiefe
Spuren hinterlassen. Die häufigsten psychischen Erkrankungen seien
Essstörungen, Depressionen und Angststörungen, berichtet Christine
Freitag vom Vorstand der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und
Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie (DGKJP).

Auch Entwicklungsstörungen - etwa reduzierte Feinmotorik, geringere
Sprach- und Konzentrationsfähigkeit vor allem bei den Jüngeren, die
nicht in Kita oder Schule gehen konnten, seien einschneidend. «Das
kann man nicht einfach so aufholen. Das ist ein gewaltiges
Zukunftsproblem für die gesamte Gesellschaft», mahnt die Medizinerin
der Uniklinik Frankfurt. 

Essstörungen in beunruhigendem Ausmaß 

Unter den Essstörungen kann Magersucht - in der Fachsprache Anorexia
nervosa - gefährlich werden und bei extremem Gewichtsverlust tödlich
ausgehen. Aktuelle Zahlen zu Neuerkrankungen gebe es nicht, sagt
Beate Herpertz-Dahlmann, die seit Jahrzehnten zu dem Thema forscht.
«Wir wissen aber, dass die stationären Aufnahmen erheblich zugenommen
haben.» Bei Klinikeinweisungen von jungen Magersüchtigen zwischen 9
und 19 Jahren haben Forschende um die Aachener Medizinerin sehr
beunruhigende Erkenntnisse gewonnen - besonders mit Blick auf Kinder.

In der Gruppe von 9 bis 14 Jahre - vor allem bei Mädchen - seien die
Einweisungen 2023 im Vergleich zum Vor-Corona-Jahr 2019 immens
gestiegen, nämlich um 42 Prozent. Bei Jugendlichen - 15 bis 19 Jahre
- lag die Klinikaufnahme Magersüchtiger 2023 um 25 Prozent höher als
2019, schildert Herpertz-Dahlmann. Basis ihrer Studie waren rund 2,5
Millionen Krankenversicherten-Daten des Verbands der Ersatzkassen
(VdEK). 

Eine Hochrechnung der VdEK für ganz Deutschland zeigt: Aufgrund von
Essstörungen, aber auch von Depressionen und Angststörungen, wurden
2023 erheblich mehr junge psychiatrische und psychosomatische
Patienten unter 18 Jahren stationär in Kliniken behandelt als 2019. 

Magersucht kann tödlich ausgehen

Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) stuft Anorexia nervosa als eine
der gefährlichsten psychischen Erkrankungen für Kinder und
Jugendliche ein. Symptome können sein: niedriger Blutdruck,
Bauchbeschwerden, bei Unterernährung dann Mangelerscheinungen,
hormonelle Veränderungen, Osteoporose, Haarausfall, mitunter sind
weitere Organe einschließlich des Gehirns betroffen. Oft lässt sich
ambulant mit Arzt und Psychotherapie gegensteuern, in schweren Fällen
ist eine Klinikbehandlung ein Muss. 

Viele Gründe für die hohen Krankheitszahlen

Warum ist der Anstieg vor allem bei Kindern so stark? «Es scheint so
zu sein, dass Kinder unter den Einschränkungen besonders gelitten
haben. Sie waren in der Pandemie noch stärker vereinsamt als die
Jugendlichen», sagt Herpertz-Dahlmann. Der Verzicht auf Verein,
sportliche Aktivitäten, Lebensort Schule und Miteinander sei für sie
vergleichsweise schlimmer gewesen.

Auch die Belastung und Probleme der Eltern daheim hätten Jüngere
stärker gespürt als die unabhängigeren Teenager oder jungen
Erwachsenen, was Essstörungen wohl ebenfalls begünstigt habe, sagt
die frühere Direktorin der Kinder- und Jugendpsychiatrie an der
Uniklinik Aachen. Und: Der Social-Media-Konsum habe gerade bei
Kindern zugenommen - und damit die Begegnung mit bedenklichen
Schlankheits- oder Körperform-Idealen und Apps etwa zu
Gewichtsabnahme oder exzessivem Bodybuilding. 

Anzeichen und Symptome einer Magersucht 

Früherkennung ist wichtig. Plötzliche Umstellung auf strikt vegane
oder vegetarische Kost, Vermeiden von Süßem oder ganzen Mahlzeiten
sollten aufhorchen lassen - ebenso wie unzufriedene Äußerungen über
das eigene Aussehen, dass man zu dick sei, trotz Gewichtsverlust. 

«Es kommen Wesensänderungen hinzu. Die Betroffenen werden sehr
traurig, ziehen sich zurück, wollen mit anderen nichts zu tun haben,
essen nicht mehr mit der Familie.» Bei Jungen ist die Störung der
Aachener Expertin zufolge «unter-diagnostiziert».

Schwierig zu erkennen auch: Atypische Magersucht, an der aktuell
ebenfalls viele junge Menschen erkranken: Sie nehmen zwar massiv ab,
weil sie aber vorher stark an Gewicht zugelegt hatten - auch infolge
von Bewegungsmangel in der Pandemie - fällt es nicht so auf. Sie
rutschten nicht unter die kritische Schwelle, könnten aber trotzdem
dieselben psychischen und körperlichen Probleme haben wie Erkrankte
mit Anorexia nervosa, erläutert Herpertz-Dahlmann. 

Probleme bereiten auch Übergewicht, Adipositas, Binge-Eating

Eine große Gruppe junger Menschen hat zudem unspezifische
Essstörungen - die keine bestimmten Kriterien erfüllen, aber
gesundheitsschädlich sind. Und bundesweit sind etwa 15 Prozent der
Kinder und Jugendlichen zu dick, zusätzlich 5 Prozent adipös, einige
von ihnen wegen einer «Binge-Eating-Störung»: Unkontrolliertes
Heißhunger-Essen könne später zu Diabetes, Bluthochdruck oder
Herzkrankheiten führen, weiß die Medizinerin aus Aachen. 

Auch Angststörungen und Depressionen weit verbreitet 

Aktuell sei davon auszugehen, dass fünf bis sieben Prozent der Kinder
und Jugendlichen Angststörungen haben, ergänzt Wissenschaftlerin
Freitag. «Das geht nicht so richtig zurück. Und die Zahlen liegen
höher als vor der Pandemie.» Bei den Jüngeren handele es sich auch um

Trennungsangst oder übersteigerte Sorge, dass den Eltern etwas
passieren könnte. 

Soziale Phobien seien ebenfalls häufiger geworden. «Wenn jemand eher
ängstlich veranlagt ist, wegen Schulschließung und fehlender
Sozialkontakte aber nicht lernt, mit anderen Kindern zu interagieren,
bleibt die korrigierende Übung und Erfahrung aus, die es zur
Angstbewältigung braucht. Dann kann sich die Angststörung
chronifizieren.» 

Depressionen sieht die Medizinerin in etwa wieder auf dem Niveau vor
Corona. Dass phasenweise kaum Kontakte möglich waren, Sport und
Bewegung fehlte, habe zu Lustlosigkeit, Antriebsschwäche,
Traurigkeit, Schlafproblemen, Müdigkeit oder Unzufriedenheit geführt.
Mit Öffnung der Schulen und Vereine seien die depressiven Symptome
seit 2023 allmählich wieder auf dem Rückzug. Professorin Freitag rät

zu viel sozialen Kontakten, Sport, wenig Medienkonsum.

Sorge vor einem Rückfall bleibt nicht aus

Anna hat inzwischen wieder ein normales Gewicht - die einst 48 Kilo
bei 1,70 Metern Körpergröße sind unter großen Mühen nun Geschicht
e.
Ihre Periode ist zurück. Das Essen bleibe aber ein schwieriges Thema,
sagt ihre Mutter. «Sie isst, weil sie muss. Es wird nach Plan
gegessen. Wöchentliches Wiegen ist angesagt.» Neben einer
Psychotherapie gibt es Kontrolltermine bei der Klinikärztin. «Es geht
ihr gut. Aber die Angst vor einem Rückfall ist schon groß.»

Online-Wechsel: In drei Minuten in die TK

Online wechseln: Sie möchten auf dem schnellsten Weg und in einem Schritt der Techniker Krankenkasse beitreten? Dann nutzen Sie den Online-Beitrittsantrag der TK. Arbeitnehmer, Studenten und Selbstständige, erhalten direkt online eine vorläufige Versicherungsbescheinigung. Die TK kündigt Ihre alte Krankenkasse.

Jetzt der TK beitreten





Zur Startseite