Chirurg gesteht Missbrauch - «abscheuliche Taten begangen» Von Michael Evers, dpa
Es ist der wohl größte Prozess um Kindesmissbrauch in Frankreich: Ein
Chirurg gesteht den hundertfachen Missbrauch an meist jungen
Patienten. Vor Gericht erinnert sich ein Opfer an seine Panik.
Vannes (dpa) - Fast 300 Opfer listet die Anklage auf, ihr
Durchschnittsalter betrug 11 Jahre. Die erschütternde Tragweite des
Prozesses um hundertfachen Missbrauch gegen einen Chirurgen in
Frankreich wird gleich zum Auftakt im Gerichtssaal spürbar, als ein
junger Mann an das Mikrofon tritt. «Ich erinnere mich in Teilen an
die Taten im Aufwachsaal und wie ich in Panik nach meinem Vater
rief», sagt der Mann mit langem Bart mit klarer Stimme. Zu dem
Missbrauch an ihm kam es der Anklage zufolge 1995, als kleines Kind
war er damals Patient des Arztes, den Justizwärter kurz zuvor zur
Anklagebank geführt haben.
Über Jahrzehnte soll der Chirurg in Westfrankreich junge Patienten -
oft während der Narkose - missbraucht und darüber akribisch Tagebuch
geführt haben. Wegen Vergewaltigung und sexuellen Missbrauchs von 299
meist minderjährigen und bewusstlosen Patienten steht der heute
74-Jährige im westfranzösischen Vannes vor Gericht. Zwischen 1989 und
2014 soll er insgesamt 158 Patienten und 141 Patientinnen missbraucht
haben.
Nach der Verlesung der Anklage und der Namen aller Opfer legt der
74-Jährige ein Geständnis ab. «Ich habe abscheuliche Taten begangen
»,
sagt der unscheinbar wirkende Rentner mit gesenktem Kopf. «Mir ist
heute klar, dass diese Verletzungen nicht weggewischt werden können
und auch nicht reparierbar sind», meint der Mediziner, dem die
Anklage vorwirft, zwischen 1989 und 2014 insgesamt 158 Patienten und
141 Patientinnen missbraucht zu haben. «Ich muss die Verantwortung
für meine Taten tragen und die Konsequenzen für die Opfer, die sie
ihr Leben lang haben werden.»
Staatsanwaltschaft: Missbrauch an bewusstlosen Kindern im OP
Zum Zeitpunkt des vorgeworfenen Missbrauchs befanden sich viele Opfer
etwa nach einer Blinddarmoperation im Operationssaal, in der Phase
der Anästhesie, des Aufwachens, der Sedierung oder des Einschlafens,
wie die Staatsanwaltschaft mitteilte. Sie waren sich des Missbrauchs
somit nicht wirklich bewusst und konnten den Arzt später auch schwer
anzeigen. Er soll seine Opfer mit den Händen penetriert und seine
Handlungen oft als medizinische Untersuchung kaschiert haben, hieß es
in der Anklageschrift.
Angeklagter führte über Missbrauch akribisch Buch
Den jahrzehntelangen Missbrauch hielt der Arzt detailreich in
Tagebüchern fest, die Fahnder bei einer Durchsuchung sicherstellten,
ebenso wie rund 300.000 kinderpornografische Fotos und Puppen. In den
Tagebüchern war auch die Rede von sexuellen Handlungen an Puppen und
Tieren.
In 111 Fällen wird dem Arzt schwere Vergewaltigung angelastet, so die
Staatsanwaltschaft. Gutachter stellten bei den Opfern
posttraumatische Syndrome, Blockaden und körperliche Beschwerden
infolge psychologischer Belastungen fest. Teils traten diese auch
erst ein, nachdem die Ermittler die Opfer aufsuchten und ihnen
offenbarten, dass sie in ihrer Kindheit Missbrauchsopfer geworden
waren.
Wegen vier Missbrauchsfällen war der Arzt 2020 bereits zu 15 Jahren
Haft verurteilt worden. Ins Rollen gebracht hatte die Ermittlungen
2017 die Anzeige einer Nachbarin, deren sechsjährige Tochter der Arzt
im Garten missbrauchte. 2005 schon war der Mediziner wegen des
Besitzes kinderpornografischer Bilder zu einer Bewährungsstrafe
verurteilt worden, ohne dass dies disziplinarische Konsequenzen für
seine Tätigkeit als Arzt hatte.
Kaum ein Kollege in der Klinik schöpfte Verdacht
Wieso das Tun des Arztes in den vielen Jahren nicht in einer der
Kliniken auffiel, wo er arbeitete - auch dieser Frage gingen die
Ermittler nach. Wie die Zeitung «Le Monde» unter Verweis auf die
Ermittlungen berichtete, hatte von den rund 100 befragten Kollegen
des Angeklagten keiner einen konkreten Verdacht. Lediglich zwei
Ärzten kam der Chirurg komisch vor - Hinweise darauf an höherer
Stelle blieben aber ohne Reaktion. Auch seine Ex-Frau will von dem
fortgesetzten Missbrauch erst bei der Festnahme ihres früheren Gatten
erfahren haben.
Irgendwelche Skrupel angesichts seiner Taten hatte der Chirurg wohl
nicht. «Während ich meine Morgenzigarette rauchte, dachte ich darüber
nach, dass ich ein großer Perverser bin», zitierte «Le Monde» einen
Tagebucheintrag des Angeklagten aus dem Jahr 2004. Er sei
Exhibitionist, Voyeur, Sadist, Masochist, Fetischist und Pädophiler.
«Und ich bin sehr glücklich damit.»
Riesenprozess mit Hunderten Beteiligten
Um die dem Arzt angelasteten Taten im bislang wohl größten Prozess in
Frankreich um Kindesmissbrauch aufzuarbeiten, wurden in der
Provinzstadt Vannes eigens Gebäude in der Nähe des Gerichts mit
Millionenaufwand hergerichtet. Sie müssen den knapp 300 Opfern und
ihren Anwälten Platz bieten. 265 Journalisten haben sich für den
Prozess angemeldet. Das Verfahren soll bis Juni dauern. Dem
pensionierten Arzt drohen bis zu 20 Jahre Haft.
Das Gerichtsverfahren in Westfrankreich ist der zweite große
Missbrauchsprozess in Frankreich binnen einiger Monate. Kurz vor
Weihnachten war der Prozess von Avignon geendet. Wegen schwerer
Vergewaltigung zu 20 Jahren Haft verurteilte das Gericht einen
Rentner, der seine damalige Frau über Jahre hinweg immer wieder mit
Medikamenten betäubte, missbrauchte und von Dutzenden Fremden
vergewaltigen ließ. 50 mitangeklagte Männer verurteilte das Gericht
zu Haftstrafen zwischen 3 und 15 Jahren.
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