Trauer, Entsetzen und offene Fragen nach Anschlag von Magdeburg Von Dörthe Hein und Corinna Schwanhold, dpa
Fünf Menschen sind tot, 200 verletzt: Nach der folgenschweren Fahrt
mit einem Auto über den Weihnachtsmarkt in Magdeburg stellt sich die
Frage, ob Behörden die Tat hätten verhindern können.
Magdeburg (dpa) - Nach dem Weihnachtsmarkt-Anschlag von Magdeburg mit
fünf Toten und vielen Schwerverletzten rückt die Aufarbeitung
möglicher Behördenversäumnisse in den Fokus. Bundesinnenministerin
Nancy Faeser sagte eine umfassende Aufklärung der Tat zu. «Die
Ansichten und Äußerungen, die der Täter kundgetan hat, werden ebenso
untersucht wie die Hinweise und Verfahren, die es bei verschiedenen
Behörden und der Justiz gab», sagte die SPD-Politikerin. Der Täter
Taleb A. war bereits vor Jahren mit Drohungen aufgefallen. Mehrere
Behörden wurden auf ihn hingewiesen.
Der 50-Jährige war am Freitagabend mit einem Mietwagen auf einem
Weihnachtsmarkt in der Landeshauptstadt von Sachsen-Anhalt durch die
Menschenmenge gerast. Dabei wurden ein neunjähriges Kind sowie vier
Frauen getötet und mehr als 200 Menschen teils schwerst verletzt.
Taleb A. wurde unmittelbar nach der Tat festgenommen.
Der Arzt aus Bernburg südlich von Magdeburg stammt aus Saudi-Arabien,
lebt seit 2006 in Deutschland und erhielt 2016 Asyl als politisch
Verfolgter. Er ist als islamkritischer Aktivist bekannt und befindet
sich inzwischen in Untersuchungshaft. Ihm werden fünffacher Mord,
mehrfacher versuchter Mord und mehrfache gefährliche Körperverletzung
vorgeworfen.
Faeser: Täter passt in kein bisheriges Raster
Den Behörden gibt das Profil des Mannes bislang Rätsel auf. «Es gilt,
alle Erkenntnisse zusammenzufügen, die ein Bild über diesen Täter
ergeben, der in kein bisheriges Raster passt», sagte Faeser. Der
Täter habe unfassbar grausam und brutal gehandelt - «in der
Begehungsweise wie ein islamistischer Terrorist, obwohl er
ideologisch offenbar ein Islamfeind war».
Der Präsident des Bundeskriminalamts (BKA), Holger Münch, sagte im
ZDF, der Tatverdächtige habe eine islamfeindliche Einstellung, er
habe sich auch mit rechtsextremen Plattformen beschäftigt. Es sei
aber noch nicht abschließend möglich zu sagen, dass die Tat politisch
motiviert gewesen sei.
Bereits 2013 auffällig
Taleb A. war in den vergangenen Jahren an verschiedenen Stellen
aufgefallen: Im Jahr 2013 verurteilte ihn das Amtsgericht Rostock zu
90 Tagessätzen wegen Störung des öffentlichen Friedens. Nach Angaben
von Mecklenburg-Vorpommerns Innenminister Christian Pegel (SPD) hatte
er im Streit um die Anerkennung von Prüfungsleistungen mit einer Tat
gedroht, die internationale Beachtung bekommen werde. Dabei habe er
auf den Anschlag beim Boston-Marathon verwiesen. Im Zuge einer
Durchsuchung seien jedoch keine Hinweise auf eine reelle
Anschlagsvorbereitung gefunden worden.
Auch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bamf) erreichte im
Spätsommer 2023 nach eigenen Angaben über seine Social-Media-Kanäle
ein Hinweis zu Taleb A. «Dieser wurde, wie jeder andere der
zahlreichen Hinweise auch, ernst genommen», schrieb das Bamf auf der
Plattform X. Die hinweisgebende Person sei, wie in solchen Fällen
üblich, direkt an die verantwortlichen Behörden verwiesen worden.
Die Magdeburger Polizei hatte vor einem Jahr eine Strafanzeige
aufgenommen. Der Berliner Amtsanwaltschaft lag zudem ein Verfahren
wegen des Missbrauchs von Notrufen durch Taleb A. vor. Zuerst hatte
der «Spiegel» darüber berichtet.
Verfahren nach Hinweis aus Saudi-Arabien
Nach Angaben von BKA-Chef Münch wurde nach einem Hinweis aus
Saudi-Arabien zu dem Mann im November 2023 ein Verfahren eingeleitet.
Die Sache sei aber unspezifisch gewesen. «Er hat auch verschiedene
Behördenkontakte gehabt, Beleidigungen, auch mal Drohungen
ausgesprochen. Er war aber nicht bekannt, was Gewalthandlungen
angeht», sagte Münch im ZDF.
Faeser kündigte an, dass sie die innenpolitischen Sprecher der
Bundestagsfraktionen am Montag erneut über den aktuellen
Erkenntnisstand unterrichten werde. «In einer möglichen Sondersitzung
des Innenausschusses werden die Spitzen unserer Sicherheitsbehörden
und ich erneut über den Ermittlungsstand informieren.» Zuvor hatten
bereits Politiker mehrerer Parteien Aufklärung verlangt. Für Debatten
sorgt auch, dass der Täter trotz eines Sicherheitskonzepts mit seinem
Wagen auf den Weihnachtsmarkt gelangen konnte.
Was könnte das Tatmotiv sein?
Der Leitende Oberstaatsanwalt Horst Walter Nopens nannte am Samstag
als mögliches Motiv des Täters Unzufriedenheit über den Umgang mit
Flüchtlingen aus Saudi-Arabien in Deutschland. Ein Sprecher der
Staatsanwaltschaft sagte, die Äußerungen des Mannes zur Motivlage
hätten eher wirr geklungen.
In sozialen Netzwerken präsentierte sich der Festgenommene als
vehementer Kritiker des Islams und des repressiven Machtapparats in
Saudi-Arabien. Zugleich setzte er sich für die Belange vor allem von
Frauen aus seinem erzkonservativ geprägten Heimatland ein.
Erst vor rund zehn Tagen veröffentlichte die amerikanische Plattform
«RAIR», die sich selbst als antimuslimische Graswurzel-Organisation
beschreibt, ein mehr als 45 Minuten langes Interview mit dem Arzt.
Darin warf er der deutschen Polizei vor, das Leben saudischer
Asylsuchender, die sich vom Islam losgesagt hätten, gezielt zu
zerstören. Zudem präsentierte er sich als Fan von X-Inhaber Elon
Musk, der inzwischen Positionen der amerikanischen Rechten vertritt,
und der AfD, die die gleichen Ziele wie er verfolge. Gleichzeitig
bezeichnete er sich aber politisch als links.
Hunderte trauern um Anschlagsopfer
In Magdeburg sitzt der Schock nach dem Anschlag tief. Der Tatort ist
seit Sonntagnachmittag wieder für Passanten freigegeben. Viele
Menschen nutzten die Gelegenheit und spazierten zwischen den
geschlossenen Buden. Hunderte Menschen kamen zu einer Mahnwache an
der Johanniskirche zusammen, dem zentralen Ort der Trauer in
Magdeburg. Viele Menschen hatten Tränen in den Augen und hielten sich
gegenseitig im Arm. Sie standen schweigend mit Blick auf das stetig
wachsende Blumenmeer.
Bereits am Samstagabend versammelten sich zahlreiche Menschen zu
einem Gedenkgottesdienst. Neben Ministerpräsident Reiner Haseloff
(CDU) waren auch Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier und
Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) vor Ort. Es gab in der Magdeburger
Innenstadt aber auch eine Kundgebung mit rechten Parolen.
Scholz hatte zuvor bei einem Besuch am Tatort von einer «furchtbaren,
wahnsinnigen Tat» gesprochen. Es gebe keinen friedlicheren und
fröhlicheren Ort als einen Weihnachtsmarkt. Jetzt sei wichtig, dass
man aufkläre, mit aller Präzision und Genauigkeit, sagte er. Zugleich
rief der dazu auf, «dass wir als Land zusammenbleiben, dass wir
zusammenhalten, und dass wir uns unterhaken, dass nicht Hass unser
Miteinander bestimmt».
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