Antikörper Lecanemab: Wie er wirkt und wem er helfen kann Von Annett Stein, dpa

Nach langem Zögern der Behörden ist in der EU erstmals eine
Alzheimer-Therapie zugelassen. Helfen kann sie nur einem kleinem Teil
der Patienten. Und: Sie ist aufwendig und riskant.

Brüssel (dpa) - Allein in Deutschland sind etwa eine Million Menschen
von Alzheimer betroffen. Nun hat die EU-Kommission erstmals eine
Alzheimer-Therapie zugelassen, die auf zugrundeliegende
Krankheitsprozesse abzielt. Schon im November hatte die europäische
Arzneimittel-Behörde EMA die Zulassung des Antikörpers Lecanemab
empfohlen. Die Zulassung gilt nur zur Behandlung von leichter
kognitiver Beeinträchtigung (Gedächtnis- und Denkstörungen) im früh
en
Stadium der Alzheimer-Krankheit.

Warum ist die Entscheidung so besonders?

Bisherige Alzheimer-Therapien behandeln nur Symptome der Krankheit,
nicht ursächliche Prozesse im Gehirn. Das ist bei Lecanemab anders:
Der Antikörper richtet sich gegen Amyloid-Ablagerungen im Gehirn und
soll dadurch den Verlauf der Krankheit verlangsamen. Um Heilung oder
Verbesserung geht es allerdings auch bei diesem Wirkstoff nicht, ein
solches Mittel ist weiterhin nicht in Sicht.

Hauptmaßstab für die Wirksamkeit war die Veränderung der kognitiven
und funktionellen Symptome nach 18 Monaten, die anhand einer
Demenzbewertungsskala gemessen wurde. Die Skala reicht von 0 bis 18,
wobei höhere Punktzahlen eine stärkere Beeinträchtigung anzeigen. Mit

Lecanemab behandelte Patienten wiesen nach 18 Monaten im Mittel einen
etwas geringeren Anstieg des Wertes auf (1,22 gegenüber 1,75). Das
deute auf einen langsameren kognitiven Abbau hin, teilte die EMA mit.

Warum können nicht alle Alzheimer-Patienten Lecanemab bekommen?

Haben die Amyloid-Plaques schon irreversible Schäden im Gehirn
angerichtet, nützt ihre Entfernung nichts mehr. Als frühe
Alzheimer-Phase sind Johannes Levin vom Deutschen Zentrum für
Neurodegenerative Erkrankungen (DZNE) zufolge die ersten drei Jahre
zu werten. Das betreffe in Deutschland aktuell vermutlich mindestens
250.000 Menschen. In dieser Frühphase kommt ein Erkrankter noch
allein klar, merkt aber zunehmend, dass sein Gedächtnis nachlässt.

Bei der EMA-Empfehlung gibt es allerdings noch eine weitere
Einschränkung: Das Mittel sollen nur jene Alzheimer-Patienten
bekommen, die lediglich eine oder keine Kopie von ApoE4 haben - einer
Variante des Gens für das Protein Apolipoprotein E. Bei ihnen ist die
Wahrscheinlichkeit für bestimmte Nebenwirkungen - Schwellungen und
Blutungen im Gehirn - geringer als bei Menschen mit zwei
ApoE4-Kopien.

Menschen mit nur einer oder keiner ApoE4-Kopie machten in Deutschland
etwa 80 Prozent der Alzheimer-Patienten aus, erklärte Gabor Petzold,
Direktor der Klinischen Forschung am DZNE. Hinzu kommen weitere
einschränkende Voraussetzungen. Insgesamt kommt Experten zufolge nur
ein kleiner Bruchteil der Alzheimer-Erkrankten für die neue Therapie
infrage.

Geht es jetzt direkt los mit solchen Behandlungen?

Nein. Zunächst stünden noch einige Schritte bis zu einem Einsatz in
Deutschland an, sagte Petzold: So seien die Hersteller zum Beispiel
verpflichtet, ausführliche Handreichungen und Schulungen unter
anderem für Ärzte auszuarbeiten und ein Beobachtungsregister
anzulegen. Bei Patienten müsse Alzheimer erst durch Biomarker-Tests
nachgewiesen sein, gefolgt von einem genetischen Test auf ApoE4.
Infrage komme die Therapie ohnehin nur für Menschen in einem sehr
frühen Stadium der Erkrankung.

In den nächsten Tagen sei mit sehr vielen Anfragen von Betroffenen
und Angehörigen bei Hausärzten, Alzheimer-Zentren und
Gedächtnissprechstunden zu rechnen, sagte Petzold. Levin befürchtet,
eine deutliche Zunahme der Patientenzahlen, wenn es aufgrund der
Behandlungsmöglichkeiten zu vermehrtem Wunsch nach diagnostischer
Einordnung kommen sollte, dürfte mit den aktuellen Strukturen schwer
zu bewältigen sein.

Der Neurologe Özgür Onur von der Uniklinik Köln geht davon aus, dass

er nur verhältnismäßig wenig Erkrankte pro Jahr mit der neuen
Therapie behandeln kann, da die häufigen Gaben eine große
Herausforderung darstellen. «Ich gehe bei uns in Köln von um die 100
Patienten aus, die wir pro Jahr behandeln können. Und wir sind ein
großes Zentrum.»

Hatte die EMA Lecanemab nicht eigentlich schon abgelehnt?

Ja. Im vorigen Juli hatte die EU-Arzneimittelbehörde noch
entschieden, das Risiko schwerer Nebenwirkungen des Antikörpers sei
höher zu bewerten als die erwartete positive Wirkung. Das Unternehmen
Eisai hatte daraufhin eine zweite Prüfung beantragt. Dabei kam der
Humanarzneimittelausschuss (CHMP) der EMA im Herbst zu dem Schluss,
dass in jener Population, die bei der erneuten Prüfung untersucht
wurde, der Nutzen von Lecanemab bei der Verlangsamung des
Fortschreitens der Symptome größer sei als die Risiken. Bei der
ersten Prüfung waren keine Untergruppenanalysen berücksichtigt
worden, sondern alle Patienten.

Warum der Bezug auf eine Untergruppe?

Bei den mit Lecanemab behandelten Patienten mit nur einer oder keiner
ApoE4-Kopie traten der EMA zufolge bei 8,9 Prozent Ödeme im Gehirn
auf, im Mittel aller Patienten aber bei 12,6 Prozent. Mikroblutungen
gab es bei 12,9 Prozent der Patienten mit nur einer oder keiner
ApoE4-Kopie, verglichen mit 16,9 Prozent der breiteren Population.
Bei den Patienten mit nur einer oder keiner ApoE4-Kopie, die mit
Placebo (einer Scheinbehandlung) behandelt wurden, lagen die Werte
für Schwellungen laut EMA bei 1,3 Prozent und für Blutungen bei 6,8
Prozent.

Wie gefährlich sind solche Ödeme und Mikroblutungen?

Die erfassten Schwellungen und Mikroblutungen im Gehirn blieben
überwiegend ohne Symptome und wurden meist durch bildgebende
Verfahren wie Magnetresonanztomographie (MRT) bemerkt. Insbesondere
bei wiederholtem Auftreten drohen jedoch eine verminderte
Gehirnleistung oder Koordinationsschwierigkeiten. Mikroblutungen
gelten zudem als Risikofaktor für größere, potenziell
lebensbedrohliche Hirnblutungen.

Die EMA betonte darum im Herbst, dass es zwingend Maßnahmen zur
Risikominimierung geben müsse. Vor Beginn der Behandlung und vor der
5., 7. und 14. Lecanemab-Dosis müssten bei Patienten demnach
MRT-Scans durchgeführt werden, zusätzliche Scans bei Warnzeichen wie
Kopfschmerzen, Sehstörungen und Schwindel. Auch die Behandlung selbst
ist aufwendig: Lecanemab wird als intravenöse Infusion alle zwei
Wochen verabreicht.

Ist Lecanemab das einzige ursächlich wirkende Mittel?

Nein. Der Antikörper Aducanumab, entwickelt vom US-Unternehmen
Biogen, wurde von der EMA Ende 2021 nicht zur Zulassung empfohlen:
Der vermeintliche klinische Effekt des Medikaments sei fraglich. Bei
einem Antrag des US-Konzerns Eli Lilly hatte die EMA auch den
Wirkstoff Donanemab im März wegen Risiken nicht empfohlen. 

Die US-Arzneimittelbehörde FDA hatte Aducanumab 2021 zugelassen,
Biogen stoppte die Produktion Anfang des Jahres allerdings wieder.
Lecanemab kam in den USA Anfang 2023 auf den Markt, Donanemab wurde
dort im vorigen Juli zugelassen. Alle drei Antikörper haben einen
ähnlichen Wirkmechanismus.

Gibt es Bedenken?

Im Fachjournal «The BMJ» hatten Experten voriges Jahr die
FDA-Entscheidungen kritisiert. Die Medikamente zeigten nur eine
unmerkliche Verlangsamung der Demenz, jedoch gravierende
Nebenwirkungen, den Tod eingeschlossen, hieß es. Fragwürdig seien
auch finanzielle Verbindungen von Mitgliedern des
FDA-Beratungsausschusses zu Pharma-Konzernen.

Kritik gab es in «The BMJ» auch an Aussagen der Hersteller, das
Fortschreiten der Alzheimer-Krankheit werde deutlich verlangsamt - im
Vergleich zu einer Placebotherapie je nach Teilgruppe um bis zu 35
Prozent. «Das ist eine irreführende Aussage», wurde der Neurologe
Alberto Espay von der Universität von Cincinnati zu den
Donanemab-Daten zitiert. «Das ist ein relativer Unterschied, der
einen sehr kleinen absoluten Unterschied in eine Zahl verwandelt, die
beeindruckend erscheint.»

Fraglich ist, wie alltagsrelevant die messbare leichte Verzögerung
des Krankheitsverlaufs überhaupt ist. «Sobald das Vollbild einer
Alzheimer-Erkrankung vorliegt, sind die statistisch beschriebenen
Effekte für den Patienten und sein Umfeld zumeist nicht mehr
wahrnehmbar», sagte Walter Schulz-Schaeffer vom Universitätsklinikum
des Saarlandes in Homburg. «Dem müssen die Nebenwirkungen des
Medikaments entgegengesetzt werden.»

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