Herzschwäche, Alzheimer, Krebs: microRNA in der Medizin Von Walter Willems, dpa
Der Medizin-Nobelpreis geht in diesem Jahr an zwei US-Forscher für
die Entdeckung von microRNA. Diese Moleküle stehen bei einer ganzen
Reihe von Krankheiten an der Schwelle zur Anwendung.
Stockholm/Berlin (dpa) - Krebserkrankungen, Autoimmunleiden,
Herzprobleme: Bei vielen Erkrankungen spielt die Regulierung von
Genen eine maßgebliche Rolle. Bekannt war seit den 1960er Jahren,
dass die sogenannte Messenger-RNA (mRNA) den Bauplan für die
Produktion von Proteinen in Zellen trägt. Dagegen galten die nicht
kodierenden RNAs - also ohne solche Informationen - lange als
genetischer Müll. Für einen Teil davon, die microRNAs, haben die
diesjährigen Nobelpreisträger Victor Ambros und Gary Ruvkun dies
widerlegt.
Die von ihnen entdeckten microRNAs (miRNA) bestimmen seit hunderten
Millionen Jahren die Entwicklung von Organismen mit - und damit auch
die Gesundheit von Menschen. Die Moleküle werden von Körperzellen
gebildet und sollen dafür sorgen, dass bestimmte Proteine zur rechten
Zeit im richtigen Körpergewebe in der benötigten Menge produziert
werden.
An vielen Erkrankungen beteiligt
Die Moleküle können aber auch an Krankheitsprozessen beteiligt sein,
etwa an Tumoren, Herzinsuffizienz, angeborenem Hörverlust oder
Sehstörungen. Mutationen in einem der für die miRNAs erforderlichen
Proteine verursachen etwa das DICER1-Syndrom. Diese seltene
Erkrankung führt zu Tumoren in verschiedenen Organen. Umgekehrt
könnte man über miRNAs Krankheiten bekämpfen - entweder indem man
miRNAs blockiert oder aber künstlich erzeugte Moleküle gezielt
einsetzt.
Zwar gibt es rund 30 Jahre nach der Entdeckung beim Fadenwurm durch
Ambros und Ruvkun noch keine zugelassenen medizinischen Verfahren.
Aber etliche solche Nutzungen stehen inzwischen an der Schwelle zur
medizinischen Anwendung: Studien an Menschen prüfen, ob sich
microRNAs zur Diagnose von Krankheiten oder zur Therapie nutzen
lassen.
Beispiel Herzinsuffizienz: Bei einer Herzschwäche ist das Herz zu
schwach, um Blut durch den Körper zu pumpen. Daran sterben nach
Angaben der Herzstiftung jährlich mehr als 40.000 Menschen in
Deutschland. Ein in Hannover entwickelter Wirkstoff, CDR132L, bindet
an die microRNA-132, die zur Vernarbung des Herzmuskels beiträgt - er
soll so das Fortschreiten einer Herzinsuffizienz bremsen oder gar
aufhalten.
Mögliche Therapien
«Unsere Arbeitsgruppe konnte erstmals 2008 in «Nature» zeigen, dass
microRNA therapeutisch gegen Herzschwäche bei Mäusen eingesetzt
werden können», erklärte Thomas Thum von der Medizinischen Hochschule
Hannover (MHH). «Inzwischen haben wir die weltweit größte Studie in
Phase 2 mit knapp 300 Patienten nach Myokardinfarkt und einem
microRNA-Ansatz durchgeführt.» Thum, Gründer des Start-ups Cardior,
erwartet «eine neue Generation von miRNA-basierten Medikamenten», die
gegen viele Erkrankungen eingesetzt werden könnten. Auch gegen
Nieren- und Lungenfibrose wird der Ansatz getestet.
Beispiel Krebs: «miRNA spielt eine sehr große Rolle bei Tumoren»,
sagte Sven Diederichs vom Deutschen Konsortium für Translationale
Krebsforschung und der Universität Freiburg. miRNA könne
Tumor-hemmende Gene unterdrücken, ihr Verlust könne Krebsgene
aktivieren.
Da die Moleküle sehr charakteristisch für bestimmte Gewebetypen sind,
lassen sie sich auch in der Diagnostik einsetzen, wie Diederichs
erklärte. Bei Bauchspeicheldrüsen- und Lungenkrebs könnte dies nicht
nur helfen, Tumore früh zu erkennen, sondern auch, etwaige
Therapiefortschritte zu verfolgen. Therapien mit miRNAs würden
derzeit geprüft - nicht nur an Bauchspeicheldrüsen-Tumoren, sondern
auch bei Lungenkrebs und Hirntumoren.
Früherkennung von Alzheimer
Beispiel Alzheimer: miRNAs können die Früherkennung der häufigsten
Demenzform verbessern, wie ein internationales Forschungsteam nach
einer Studie an 800 Menschen im Fachblatt «Alzheimer's & Dementia»
schreibt. Man brauche nicht nur Therapien zur Behandlung von
Alzheimer, sondern auch neue Ansätze, um die Erkrankung zu erkennen,
bevor Symptome wie Gedächtnisstörungen auftreten, sagte André Fischer
von der Uniklinik Göttingen. «Wir haben herausgefunden, dass dies
über eine Messung von microRNAs im Blut möglich ist.»
Bereit für die klinische Routine sei das Verfahren noch nicht. Man
arbeite an einem simplen Bluttest, der anhand eines Bluttropfens aus
dem Finger mehrere miRNAs erkenne. Dieser Test könne in wenigen
Jahren auf dem Markt sein, glaubt Fischer. Das könne aufwendige
Verfahren wie die Analyse von Rückenmarksflüssigkeit und Hirnscans
ergänzen.
Allerdings: Bislang gibt es keine zugelassenen Medikamente auf Basis
von miRNAs. Bedenke man, dass man diese RNA-Varianten beim Menschen
erst seit zwei Jahrzehnten kenne, sei die Forschung aber schon recht
weit, sagte Diederichs. Dafür, dass der Ansatz medizinisches
Potenzial hat, spricht auch eine wirtschaftliche Entwicklung: Erst im
Mai übernahm der dänische Pharmakonzern Novo Nordisk - bekannt für
die Abnahmespritze Wegovy - das von Thum gegründete Start-up Cardior
für etwa eine Milliarde Euro.
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