Verschickungskinder - Wie Sommerferien zum Alptraum wurden Von Nico Pointner, dpa

Ein Stück dunkle Nachkriegsgeschichte: Millionen Kinder wurden über
Jahrzehnte zur Kur geschickt. Viele erlebten seelische Grausamkeiten.
Eine Begegnung mit einer Betroffenen.

Stuttgart (dpa/lsw) - Es sind düstere Erinnerungen, die Bettina
Rosenberger mit dem Jahr 1975 verbindet - mit den Sommerferien in dem
sogenannten Erholungsheim im Schwarzwald. Sie habe sich mit ihren
damals 12 Jahren wie im Gefängnis gefühlt, erzählt sie. Zwölf Stund
en
Nachtruhe sei dort verordnet worden. Kein Toilettengang sei erlaubt
gewesen, kein Laut, kein Kichern. 

«Wer beim Tuscheln erwischt wurde, musste zwei Stunden auf dem kalten
Flur stehen.» Die heute 61-Jährige erinnert sich an die Verbote, an
das schlechte, fettige Essen. Briefe der Kinder an die Eltern über
die Zustände seien zensiert worden. 

Die Sommerferien im Jahr 1975 hätten sie für immer verändert, erzäh
lt
Bettina Rosenberger. Vorher sei sie ein fröhliches, offenes Kind
gewesen - aber stumm und traurig sei sie aus dem Heim zurückgekehrt.
Bis heute sei sie «ultraangepasst», passe häufig auf, dass sie ja
nichts falsch mache. Und vor jeder Beschäftigung gehe sie nochmal auf
Toilette, so sehr habe sich das Verbot im Heim bei ihr eingeprägt.

Seelisches und körperliches Leid statt Erholung

Rund eine Million Menschen in Baden-Württemberg sind in ihrer
Kindheit nach Schätzung von Forschern in sogenannte Erholungs- oder
Kurheime geschickt worden - mehr als jedes zweite dieser sogenannten
Verschickungskinder erfuhr dabei Gewalt, Vernachlässigung und
Missbrauch, wie eine Projektgruppe des Landesarchivs nun berichtet. 

Die Verschickung war gedacht als Gesundheitshilfe. Ärzte schickten
etwa Kinder in die Heime, die als zu dünn galten, unter
Bewegungsmangel litten oder auch chronisch krank waren. Betrieben
wurden die Einrichtungen von privaten wie öffentlichen Trägern, von
Kirchen, der Arbeiterwohlfahrt, Landkreisen oder Städten.

 «Bei Eheproblemen hat man die Kinder gern aus dem Weg geschafft»

Die Forscher der Projektgruppe in Baden-Württemberg arbeiteten
zweieinhalb Jahre lang die sogenannte Kinderverschickung im Südwesten
vom Ende der 1940er Jahre bis in die 1990 Jahre gemeinsam mit rund
100 Betroffenen auf. Bettina Rosenberger aus Fellbach ist eine davon.

Ihre Eltern seien damals sehr jung gewesen, berichtet sie. «Bei
Eheproblemen hat man die Kinder gern aus dem Weg geschafft», sagt
sie. Auch ihr Bruder sei ins Heim geschickt worden. Ein Arzt hatte
damals bei ihren Eltern dafür geworben, das sei eine Art kostenloser
Urlaub für die Kinder, außerdem sei Bettina zu dünn, so Rosenberger.

«Dabei war ich im Schwimmverein, war weder schwächlich noch
kränklich.»

Berichte von Missbrauch und Isolation

Experten schätzen die Zahl der Verschickungskinder bundesweit auf 8
bis 12 Millionen. Betroffene berichteten den Forschern von Schlägen,
Essenszwang, Kollektivstrafen, sexualisierter Gewalt und der
unerlaubten Gabe von Medikamenten. Telefongespräche nach Hause waren
demnach unerwünscht. 

Viele Kinder kehrten traumatisiert nach Hause zurück. «Die Heime
waren chronisch unterfinanziert, die staatliche Aufsicht nur spärlich
existent», sagte Projektleiter Christian Keitel bei der Vorstellung
der Ergebnisse in Stuttgart. «Die Kinder hatten schreckliche Angst,
viele dachten, sie kommen gar nicht mehr zurück nach Hause.»

Die Experten erstellten ein Verzeichnis der Heime im Südwesten. Sie
zählten bislang rund 470 Einrichtungen für den Zeitraum zwischen 1949
und 1980, es kämen aber immer noch welche hinzu. Ein Großteil der
Einrichtungen befand sich demnach im Schwarzwald, allein im
Schwarzwald-Baar-Kreis gab es demnach 56 Heime. Zu dem Thema ist bis
zum 6. Dezember auch eine Ausstellung im Hauptstaatsarchiv in
Stuttgart zu sehen.

Probleme wurden totgeschwiegen

Erst in den vergangenen Jahren rücken die Missstände mehr und mehr
ins Blickfeld der Öffentlichkeit. «Die Kinder haben damals nicht den
Raum bekommen, um darüber zu sprechen - sie wurden nicht ernst
genommen wie heute», sagte die Projektmitarbeiterin Corinna Keunecke.

Auch Bettina Rosenberger findet nach ihrer Rückkehr nicht die Kraft,
ihren Eltern von ihren schlimmen Erfahrungen zu berichten. Als ihr
Vater sie am Stuttgarter Bahnhof am Ende der Sommerferien abholt,
bricht sie in Tränen aus - der Vater denkt allerdings, sie sei
traurig, dass die Zeit im Heim vorbei sei. 

Die damals 12-Jährige erzählt ihren Eltern, dass sie nie wieder ins
Heim wolle, aber nicht warum. «Ich wollte ihnen kein schlechtes
Gewissen machen», so die heute 61-Jährige. «Sie konnten ja nichts
dafür.» Erst sehr viel später arbeitet sie das Leid für sich selbst

auf. Seit 2021 ist sie in einer Selbsthilfegruppe für
Verschickungskinder, die ihr sehr hilft. «Damit man aus der
Opferrolle herauskommt.» 

 

 

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