«Wir wissen nicht viel darüber, was im Schädel los ist» Von Doreen Garud, dpa
Bei Menschen mit schweren Hirnschäden wissen auch die Fachleute oft
nicht, was wirklich im Gehirn vor sich geht. Eine Studie gibt
Hinweise darauf, dass viele Kranke doch einiges wahrnehmen.
Boston/Berlin (dpa) - Nach einer schweren Hirnverletzung eines
Menschen, der dann oft im Koma auf der Intensivstation liegt, stellen
sich Angehörige und medizinisches Personal irgendwann die Frage: Hat
der Patient oder die Patientin das Bewusstsein wieder erlangt? Um das
zu ergründen, wird die verletzte Person zum Beispiel gebeten, eine
Hand zu bewegen. Erfolgt keine Reaktion, gehen viele davon aus, dass
sie sich noch in einem so tiefen Koma befindet, dass sie nichts
mitbekommt.
Doch Studien weisen darauf hin, dass dieser Schluss nicht stimmen
muss. Denn es gibt Menschen, die äußerlich nicht auf eine Ansprache
reagieren, deren Gehirne aber trotzdem kognitiv arbeiten. Frühere
Studien an einzelnen Forschungszentren fanden eine solche Aktivität
bei ungefähr 15 bis 20 Prozent der Untersuchten. Eine neue Studie im
renommierten Fachjournal «New England Journal of Medicine» kommt nun
auf einen höheren Wert von etwa 25 Prozent.
Erstautorin Yelena Bodien vom Zentrum für Neurotechnologie und
Neurorehabilitation am Massachusetts General Hospital erklärt:
«Einige Patienten mit schweren Hirnverletzungen scheinen ihre
Außenwelt nicht zu verarbeiten. Wenn sie jedoch mit fortschrittlichen
Techniken wie funktioneller Magnetresonanztomographie (fMRT) und
Elektroenzephalographie (EEG) untersucht werden, können wir
Hirnaktivitäten feststellen, die auf etwas anderes schließen lassen.»
Unfälle, Schlaganfälle, Herz-Kreislauf-Stillstände
In der Studie untersuchten die Fachleute Patientinnen und Patienten
mit schweren Hirnverletzungen aus den USA und Europa. Sie hatten -
oft schon vor Monaten - etwa einen Verkehrsunfall mit
Schädel-Hirn-Trauma, einen Schlaganfall oder eine Wiederbelebung nach
Herz-Kreislauf-Stillstand. Während in Tests ihre Gehirne gescannt
wurden, erhielten sie Anweisungen, zum Beispiel: «Stellen Sie sich
vor, sie öffnen und schließen Ihre Hand». Oder sie sollten sich
vorstellen, eine Sportart auszuführen.
241 Teilnehmende zeigten, normalerweise im Bett liegend, zwar keine
äußerlich sichtbare Reaktion - aber in den Tests befolgten 60 von
ihnen die Anweisungen trotzdem minutenlang innerlich. Diese Menschen
seien also aufmerksam, verstünden Sprache und hätten ein
Kurzzeitgedächtnis, schreiben die Autorinnen und Autoren.
Studie wirft ethische Frage auf
Die über viele Jahre durchgeführte internationale Studie sei sehr
bedeutend, meint Julian Bösel, Sprecher der Kommission Neurologische
Intensivmedizin der Deutschen Gesellschaft für Neurologie (DGN). Denn
sie umfasse die bisher größte Patientengruppe, sei an sechs
medizinischen Zentren durchgeführt worden und habe das Phänomen
systematischer als sonst erfasst, sagt der Neurologe, der unter
anderem an der Uniklinik Heidelberg tätig ist und nicht an der Studie
beteiligt war. Die Untersuchung adressiere unter anderem eine
zentrale ethische Frage bei solchen Menschen: «Ob man die Therapie
fortführen sollte oder nicht.»
Schwere Hirnverletzungen verursachen häufig eine Beeinträchtigung des
Bewusstseins. Als Koma bezeichnet wird der Zustand kompletter
Bewusstlosigkeit ohne Augenöffnen auch auf Schmerzreize hin. Öffnet
jemand gelegentlich die Augen und hat unterscheidbar
Schlaf-Wach-Phasen, aber keine klinischen Hinweise auf
Kontaktfähigkeit, dann sprach man früher vom Wachkoma, heute vom
Syndrom reaktionsloser Wachheit (SRW). Davon abgegrenzt wird der
Zustand mit einem erhaltenen Minimalbewusstsein, wenn
Augenfolgebewegungen vorhanden sind oder aber einfache Aufforderungen
befolgt werden.
Ratsam wären mehr Untersuchungen, mehr Zeit
Solche Bewusstseinsstörungen können Tage, Wochen, Monate oder auch
Jahre anhalten. «Studien wie die jetzige könnten in bestimmten
Konstellationen Anlass geben, mehr von diesen Patienten mit EEG zu
untersuchen und sie über längere Zeit zu beobachten», meint Bösel.
Man könne daraus ableiten, dass man in Zweifelsfällen ausgewählten
Patienten mehr Zeit einräumen sollte.
Unklar sei allerdings, ob spezielle Therapien solchen Menschen
helfen. Seit längerem werde versucht, mit Verhaltenstherapien,
Medikamenten oder anderen Verfahren etwas zu bewirken, bisher meist
ohne durchschlagenden oder nachhaltigen Erfolg. Ein Team des
Massachusetts General Hospital setzt zudem moderne Technik ein:
Mithilfe von Gehirn-Computer-Schnittstellen soll eine Verbindung der
Gehirne von solchen Patientinnen und Patienten mit Computern
hergestellt werden, damit sie sich mitteilen können.
Gehirnaktivität ist nicht zwingend Bewusstsein
Frank Erbguth, Präsident der Deutschen Hirnstiftung, hingegen findet,
dass die neue Studie nichts fundamental Neues aussagt. «Dass es das
Phänomen gibt, ist klar.» Aber nur, dass elektrische Muster oder
aktive Regionen im Gehirn gemessen würden, heiße nicht, dass diese
Menschen wirklich eine höhere Form von Bewusstsein hätten. Solche
Aktivität finde man auch im fMRT oder EEG von narkotisierten
Menschen.
Einig sind sich beide Experten darin, wie man mit solchen Menschen,
die nicht reagieren, umgehen sollte. «Die Menschen auf den
Intensivstationen und Reha-Stationen sollten immer so behandelt
werden, als bekämen sie etwas mit. Man redet mit ihnen und geht
respektvoll mit ihnen um. Das ist auch heute schon so», sagt Erbguth.
Zahl der Betroffenen ungewiss
Wie hoch also ist die Rate an Menschen, die kognitive Fähigkeiten
aufzeigen, aber bei denen Verhaltensanzeichen fehlen? Sowohl die
Studien-Autorinnen und -Autoren als auch die deutschen Experten
erklären, definitive Aussagen dazu seien schwierig. In der neuen
Studie waren die Tests nicht standardisiert und die Patientinnen und
Patienten selektiert. «Außerdem waren es völlig unterschiedliche
Ursachen von Hirnschädigungen, die man hier zusammengefasst hat»,
meint Erbguth.
Trotzdem, betont Bösel, zeigten die Prozentzahlen von Studien wie
dieser: «Wir sollten uns darüber klar sein, dass vielleicht noch mehr
bewusstseinsgestörte Patienten als gedacht etwas von dem mitbekommen,
was rund um sie vorgeht.» Seiner Erfahrung nach sei es noch
vielerorts üblich, dass am Bett von komatösen Patientinnen und
Patienten gesprochen werde, als seien diese nicht da. «Viele
Pflegekräfte machen das dagegen oft sehr gut, indem sie den Patienten
begrüßen, sich vorstellen, ihm sagen, was sie mit ihm machen.»
Das sollten alle beherzigen, auch Ärztinnen und Ärzte bei der Visite
oder Besuchspersonen, und etwa am Krankenbett nicht über
angsteinflößende Themen sprechen. «Wir stehen am Bett und wissen
nicht so viel darüber, was wirklich gerade im Schädel los ist, das
muss man ganz ehrlich sagen.»
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