Tod nach Vergewaltigung: Indiens Ärzte streiken landesweit Von Anne-Sophie Galli, dpa
Der grausame Tod einer Ärztin in Ausbildung erschüttert Indien aufs
Neue: Ärztinnen und Ärzte sowie Frauen fordern Konsequenzen - und
gehen auf die Straße.
Neu-Delhi (dpa) - Wut und Trauer in der Ärzteschaft, Entsetzen in der
Gesellschaft: Der gewaltsame Tod einer jungen Ärztin in Ausbildung
hat in Indien eine neue Welle von Protesten ausgelöst. Es ist eine
weitere Vergewaltigung, die das bevölkerungsreichste Land der Welt
erschüttert. Erst im Jahr 2022 wurden mehr als 31.000
Vergewaltigungsfälle gemeldet. Nun erreicht der Protest eine neue
Dimension: Am Samstag haben Medizinerinnen und Mediziner in den
Morgenstunden begonnen, landesweit ihre Arbeit für 24 Stunden
niederzulegen. Krankenhäuser wiesen Patientinnen und Patienten ab -
wenn es sich nicht um Notfälle handelte.
Demonstranten in weißen Kitteln
Währenddessen riefen die Demonstrantinnen und Demonstranten in weißen
Kitteln ihre Forderungen und hielten Plakate hoch. Sie möchten eine
Bestrafung des Täters oder der Täter - und sicherere
Arbeitsbedingungen. «Ich habe Angst», sagte eine junge Frau einem
Reporter des örtlichen Fernsehsenders NDTV. Ihre Eltern hätten ihr
gesagt, dass sie keine Nachtschichten mehr übernehmen solle. Es
brauche bei Krankenhäusern Sicherheitsvorkehrungen wie an Flughäfen,
erklärte der Chef der Indian Medical Association, RV Asokan. «Ärzte
werden misshandelt, sind unterbezahlt und überarbeitet», sagte ein
anderer Arzt der «Times of India». Bereits in den vergangenen Tagen
hatten Zehntausende protestiert.
Gleichzeitig rief das Gesundheitsministerium in Neu-Delhi die
Protestierenden dazu auf, wieder in ihre Krankenhäuser zurückzukehren
- gerade angesichts einer steigenden Zahl von Dengue- und
Malaria-Fällen. Sie versprachen, dass ein Komitee
Sicherheitsmaßnahmen vorschlagen werde.
Autopsie wies Spuren sexueller Gewalt nach
Das schon lange schwelende Problem wurde einmal mehr aktuell, als die
Leiche der 31-jährigen Ärztin in Ausbildung am Freitagmorgen
vergangener Woche gefunden wurde - in einem Seminarraum ihres
Krankenhauses in der Millionenstadt Kolkata. Die Frau soll dort nach
einer langen Schicht geschlafen haben. Ihr Körper wies viele
Verletzungen auf, eine Autopsie wies Spuren sexueller Gewalt nach.
Die Polizei nahm bislang einen Verdächtigen fest.
Stimmen aus der Ärzteschaft berichteten, die Obduktion deute auf eine
Gruppenvergewaltigung hin. Inzwischen wies das Oberste Gericht
Kolkatas eine indische Bundespolizeibehörde an, die Ermittlungen zu
übernehmen.
Viele Ärzte werden angegriffen
Die Berichte richteten die Aufmerksamkeit auf gleich zwei große
Probleme: Zum einen erleben Ärztinnen und Ärzte auf dem Subkontinent
immer wieder Gewalt am Arbeitsplatz. Berichte häufen sich, wonach
Angehörige angreifen - gerade wenn Patientinnen und Patienten
sterben. Bis zu 75 Prozent der Medizinerinnen und Mediziner seien
etwa Drohungen, körperlichen Übergriffen ausgesetzt, hieß es in einer
Studie der Indian Medical Association von 2019.
Zum anderen ist auch Gewalt gegen Frauen in dem patriarchisch
geprägten Land mit 1,4 Milliarden Einwohnerinnen und Einwohnern
verbreitet. Nach offiziellen Daten wird in Indien jede Viertelstunde
ein neuer Vergewaltigungsfall gemeldet. Die tatsächliche Zahl dürfte
dabei deutlich höher sein, wie Frauenrechtlerinnen immer wieder
betonen. Aber das Stigma ist so groß, dass viele Opfer lieber
schweigen.
Ein Grund dürfte die Gesellschaft sein. Jedes Jahr werden Tausende
weibliche Föten abgetrieben, Mädchen besuchen Schulen seltener als
Jungen, und Töchter sind für Familien oft eine finanzielle Belastung
- häufig müssen sie bei ihrer Heirat eine hohe Mitgift zahlen, obwohl
dies inzwischen offiziell verboten ist.
Misstrauen gegenüber Polizei
Dringen allerdings besonders brutale Fälle sexueller Gewalt an die
Öffentlichkeit, ist die Aufmerksamkeit groß - vor allem seit der
Gruppenvergewaltigung einer 23-jährigen Studentin in einem fahrenden
Bus in der Hauptstadt Neu-Delhi vor zwölf Jahren. Sie starb später in
einem Krankenhaus. Auch damals gab es Massenproteste, was zu einer
Verschärfung der Gesetze führte. Die vier Täter starben sieben Jahre
später am Galgen - worauf Hunderte vor ihrem Gefängnis in der
Hauptstadt Neu-Delhi jubelten.
Trotzdem trauen viele Inderinnen der Polizei und dem Justizsystem
weiterhin nicht - besonders wenn sie einer tiefen Kaste angehören.
Viele Fälle bleiben jahrelang liegen, manche Verdächtige kommen gar
auf Kaution frei.
Deshalb beteiligten sich zuletzt auch viele Frauen an den Protesten -
von Jung bis Alt. Sie marschierten etwa in der Nacht zum Donnerstag,
dem Tag der indischen Unabhängigkeit von den ehemaligen britischen
Kolonialherren, und forderten ein Leben ohne Angst. In derselben
Nacht randalierten Menschen in dem Krankenhaus, wo die Leiche der
31-jährigen Ärztin in Ausbildung vor rund einer Woche gefunden wurde.
Die Polizei teilte bislang nicht mit, wer hinter dem Angriff steckte,
sprach aber von Festnahmen.
Premier registriert die Wut der Masse
Premierminister Narendra Modi griff den Fall in seiner Rede am
Unabhängigkeitstag indirekt auf. «Die breite Masse ist wütend», sag
te
der 73-Jährige. «Unser Land, unsere Gesellschaft und unsere
Regionalregierungen müssen das ernst nehmen. Verbrechen gegen Frauen
sollten mit einer größeren Dringlichkeit untersucht werden.» Doch die
Werte einer Gesellschaft ändern sich nur langsam.
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