«Da ist die Hölle los» - Wenn Wissenschaftler im Shitstorm stehen Von Marco Krefting, dpa
Corona, Klimawandel, Tempolimit: Es gibt Themen, da löst selbst die
wissenschaftlich fundierteste Feststellung Hass und Hetze aus. Manche
Forschende werden mit dem Tod bedroht. Wie geht man damit um?
Karlsruhe (dpa) - Als ihn ausgerechnet der bayerische
Vize-Ministerpräsident auf X als «Bub» bezeichnete, nahm
Klimaforscher Christian Scharun es mit Humor: Er setzte ein Häkchen
hinter den Bucket-List-Eintrag «Von Hubert Aiwanger beleidigt werden»
und kommentierte, es sei immer noch «uncool, andere Menschen anhand
ihres Geschlechts, Alters oder Aussehens, anstatt nach ihren Inhalten
und Taten zu beurteilen».
Über Kommentare zu seinem jugendlichen Aussehen sehe er hinweg, sagt
der 31-Jährige. Doch er wurde auch schon als «Klimajünger» beleidig
t
und als «Faschist», wie er sagt. «Halt dein dummes Maul» gehöre n
och
zu den harmlosen Kommentaren. «Ich könnte täglich eine Handvoll
Anzeigen erstatten», sagt der ehemalige Forscher am Karlsruher
Institut für Technologie (KIT), der heute für die
Wissenschaftsjournalistin Mai Thi Nguyen-Kim arbeitet.
Wie Scharun geht es vielen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern.
Posten sie etwas im Internet, hagelt es Kritik, Beleidigungen,
manchmal Morddrohungen. Eine Kollegin habe mal leicht ironisch
gesagt, es sei erst eine Todesdrohung dabei gewesen. «Das ist doch
bitter, wenn dass das Positive sein soll», sagt Scharun. Viele
Forschende kommunizierten lieber gar nicht erst öffentlich, um
Shitstorms zu entgehen. «Es kann aber doch nicht das Ziel sein, dass
sich am Ende nur die mit harter Schale äußern.»
Beleidigungen und Anfeindungen ernstes Problem
Das Deutsche Zentrum für Hochschul- und Wissenschaftsforschung (DZHW)
hat im Mai Ergebnisse einer repräsentativen Befragung veröffentlicht,
nach der 45 Prozent der Forschenden in irgendeiner Form
Wissenschaftsfeindlichkeit erlebt hat. Tendenz: steigend.
Zwar gab es Kritik, die Studie zähle zu Wissenschaftsfeindlichkeit
auch «herablassende Äußerungen» und eine «unangemessene Reaktion
auf
wissenschaftliche Erkenntnisse in öffentlichen Diskussionen». Doch an
der Quintessenz gibt es wohl nichts zu rütteln: «Anfeindungen gegen
Forschende sind ein ernstes Problem.»
Und das nicht nur, wenn sie - wie in Corona-Zeiten der Virologe
Christian Drosten - in den Fokus der Öffentlichkeit und damit der
öffentlichen Debatte rücken. Auch weitgehend unbekannte
Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sind betroffen, wie Scharun
sagt.
Nach Vorträgen kämen eher selten Menschen zu ihm und äußerten Kriti
k
- «meist nicht freundlich, aber friedlich». In sogenannten sozialen
Netzwerken aber, «da brennt der Baum». «Tempolimit ist ein Garant f
ür
Shitstorms», sagt Scharun. «Da ist die Hölle los.» Aber auch mit
Beiträgen zum Klimawandel löst er regelmäßig Fluten an Reaktionen
aus. «Da kann ich davon ausgehen, dass sich innerhalb weniger Stunden
die gesamte Meute versammelt.»
Neben falschen Behauptungen von Klimawandelleugnern und Beleidigungen
gehe es schnell nicht mehr um die Sache, sondern um Themen wie
Corona, Russlands Krieg in der Ukraine und den Gaza-Konflikt. Scharun
spricht von «Bullshit-Bingo». Ein Klassiker, vor allem seit er für
die aus dem ZDF bekannte Nguyen-Kim und «Terra X» arbeitet: Was er
für die Öffentlich-Rechtlichen erzähle, werde «von oben» diktiert
, er
sei eine «Marionette der Eliten».
Hilfe für Betroffene
Für Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die von Anfeindungen,
Drohungen oder Hass-Nachrichten betroffen sind, gibt es
Hilfsangebote. Im Netzwerk für kommunizierende Forschende («WissKon»)
können sie sich über einen sogenannten «Mayday-Button» Unterstütz
ung
holen. Der Bundesverband Hochschulkommunikation und die Organisation
Wissenschaft im Dialog haben im vergangenen Jahr zudem die Initiative
«Scicomm-Support» ins Leben gerufen, eine Online-Plattform samt
Telefonnummer für persönliche Beratung.
Anders als erwartet konzentriert sich die Arbeit nicht nur auf
Bereiche, in denen zu aktuell gesellschaftlich relevanten und
kontroversen Themen wie Klimawandel, Forschung mit Tierversuchen,
Gender- und Diversityforschung gearbeitet wird. «Tatsächlich kommen
die Anrufe aber aus dem gesamten wissenschaftlichen Fächerspektrum»,
teilte das Team mit und nannte als Beispiele auch Theologie,
Philosophie und Wirtschaftswissenschaften.
Seit Beginn beraten die Fachleute demnach unter anderem einen
Professor, den eine Person seit acht Jahren beschimpft, bedroht,
verfolgt - bis hin zu einem körperlichen Angriff in der Stadt. Bei
öffentlichen Veranstaltungen sei ein Sicherheitsdienst dabei.
«Desinformation ist auch eine Waffe»
Scharun tauscht sich in einer kleinen Community aus. «Da schicken wir
uns auch mal die dümmsten Kommentare.» Auf X verzichten will er
nicht. Dort könne er viele Menschen erreichen, zumal es in der
Wissenschaft durchaus genug Anlass zu sachlichen Diskussionen gebe.
Seit Juli 2021 ist er überhaupt erst auf der Plattform, nach einem
Sieg bei einem Wissenschafts-Wettbewerb. Inzwischen hat er mehr als
16 500 Follower.
Und er hat sich eine Strategie zurechtgelegt: Accounts mit wenigen
Followern antwortet er gar nicht erst. Wenn er auf die großen
Fake-News-Verbreiter mit Tausenden Anhängern reagiere, sei das zwar
in 99 Prozent vermutlich auch vergebene Liebesmüh, räumt Scharun ein.
«Aber vielleicht erwische ich doch einen Mitleser oder eine
Mitleserin.» Doch auch das koste viel Zeit: «Es ist viel leichter,
Bullshit zu verbreiten, als Bullshit richtigzustellen.»
Zudem nutze er inzwischen mehr Zeit zum Aufklären, wie
Falschinformationen verbreitet werden - wenn etwa Zitate von
Nobelpreisträgern aus dem Kontext gerissen werden. Auf X wünscht
Scharun sich mehr Regeln wie eine Pflicht zu Quellenangaben. Früher
seien häufiger Accounts gesperrt worden, sagt er. Heute fände er es
gut, wenn es zumindest Warnungen gäbe, dass ein Account
höchstwahrscheinlich Fake News verbreite. «Natürlich sollte man
prinzipiell alles sagen dürfen», sagt Scharun. «Aber Desinformation
ist auch eine Waffe.»
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