«Wie weit muss man Menschen treiben?» - tödliche DDR-Ostseefluchten Von Christopher Hirsch, dpa

Mit akribischer Detektivarbeit bewahrt ein Forscherteam tragische
Geschichten von Menschen vor dem Vergessen, die auf der Flucht aus
der DDR über die Ostsee gestorben sind. Die Schicksale hinterlassen
auch bei den Wissenschaftlern Spuren.

Greifswald (dpa) - Es war nicht das erste Mal, dass die beiden Brüder
Lutz und Ulf Balzer aus Sachsen mit ihren Familien auf dem
idyllischen Zeltplatz im Norden Rügens zu Gast waren. Sie mieteten
für Anfang September 1979 ihren Stammplatz in Nonnevitz. Aber es
sollte das letzte Mal sein.

Zusammen mit ihren Frauen, eine schwanger, und Ulfs zweijähriger
Tochter wollten sie vermutlich nach Schweden fliehen - mit einem aus
zwei Faltbooten zusammengesetzten Katamaran. Ulf, der ältere Bruder,
hatte sogar einen Außenbordmotor gebaut. Am 10. September 1979 wurden
die Balzers das letzte Mal in der Nähe ihrer Zelte gesehen.

Schon am selben Abend tauchten Überreste ihres improvisierten
Katamarans im Grundschleppnetz eines DDR-Trawlers auf. Den Brüdern
und ihren Familien waren höchstwahrscheinlich die Ausläufer eines
Sturmtiefs zum Verhängnis geworden. Keiner überlebte.

Wenn er nach Nonnevitz auf Rügen fahre, sei er automatisch bei den
Balzers, berichtet Henning Hochstein. So gehe es ihm vielerorts an
der Ostsee. Hochstein ist Teil eines Forscherteams der Universität
Greifswald, das solche Schicksale erstmals wissenschaftlich
aufgearbeitet hat. «Das verändert einen auch selbst», sagt er.

135 tödliche DDR-Fluchtversuche über die Ostsee hat das in der Spitze
vierköpfige Team verifiziert. Bei zwölf weiteren Todesfällen liegt
der konkrete Verdacht vor, dass die Menschen auf der Flucht waren.
Für Gewissheit wären aber noch weitere Recherchen notwendig. Bei über

100 weiteren Fällen gibt es Indizien, die auf eine Flucht hinweisen.

Im Gegensatz zu den Toten an der Landgrenze seien Fluchttote an der
Wassergrenze zuvor nicht wissenschaftlich erforscht worden, sagt
Hochstein. Für die 147 verifizierten und Verdachtsfälle haben die
Wissenschaftler Kurzbiografien im Internet veröffentlicht. Beim
Schreiben der Texte habe er auch an Angehörige gedacht, denen die
Aufklärung, aber auch die öffentliche Anerkennung möglicherweise
helfe, berichtet Hochstein.

Seine Kollegin Jenny Linek sagt, sie habe beispielsweise mit der
Mutter eines jungen Mannes gesprochen, der auf der Flucht über die
Ostsee gestorben ist. «Das war so mein emotionaler Tiefpunkt,
gleichzeitig aber auch irgendwie doch erbaulich, weil ich merkte, wie
gut ihr das tat, darüber zu sprechen.» Man könne Angehörigen anhand

der vielen oft auch ähnlichen Fälle die Vorstellung nehmen, nur bei
ihnen sei irgendetwas schiefgelaufen.

Ausgangspunkt der Wissenschaftler waren 655 Ertrinkungstote von 1961
bis 1989, die sie in mühsamer Kleinstarbeit gefunden und auf einen
möglichen Fluchthintergrund hin untersucht haben. Sie durchforsteten
Standesämter, Landes- und Bundesarchive und standen auch mit Menschen
in Dänemark in Kontakt. «Ich war mehrfach in der Projektlaufzeit an
einem Punkt, wo ich dachte, das ist doch total irre», erinnert sich
Linek.

Auffällig ist, dass knapp ein Fünftel der verifizierten tödlichen
Fluchtversuche 1961 und 1962 stattfanden, also unmittelbar nach dem
Mauerbau. Und: Es handelt sich insgesamt hauptsächlich um junge
Männer.

Es gab verschiedene Fluchtmittel und -wege: schwimmend, mit
Luftmatratze, Falt- oder Schlauchboot, von Rügen aus oder Richtung
Lübecker Bucht in die BRD oder zu den Fährlinien. In den 1960er
Jahren sei der Darß als Startpunkt sehr beliebt gewesen, sagt Linek.
Auf der Hälfte nach Dänemark habe das Gedser Leuchtfeuerschiff
gelegen. Die Dänen hätten wiederholt DDR-Flüchtlinge aufgenommen und

dann mit einem verschlüsselten Funkspruch um Abholung gebeten. Er
lautete: «Wir brauchen Wasser.»

Bei den Vorgeschichten gibt es Muster: Stasi-Anwerbeversuche; junge
Menschen, die von Anfang an wussten, dass sie nicht in der DDR leben
wollen; Menschen, die die Trennung zu ihrer Westfamilie nicht mehr
aushielten oder irgendwie in Schwierigkeiten mit dem DDR-Regime
gerieten.

Für Linek kann die Aufarbeitung der Schicksale zwischen verschiedenen
DDR-Erfahrungen vermitteln. Vielleicht fänden Menschen, die nach
eigener Aussage gut in der DDR gelebt haben, beim Lesen der
Geschichten bis zu einem gewissen Punkt im Leben auch Gemeinsamkeiten
mit dem Fluchtopfern.

«Sehr wichtig», nennt der MV-Landesbeauftragte für die Aufarbeitung
der SED-Diktatur, Burkhard Bley, das Projekt. Neben der möglichen
Klärung der Schicksale auch für Angehörige gebe es eine
gesellschaftliche Wirkung. «Wie weit muss man Menschen treiben, dass
sie bereit sind, diese Risiken auf sich zu nehmen?» Diese Frage müsse
man stellen. «Es wird ja immer behauptet, die DDR wäre ja gar nicht
so schlimm gewesen.» Mit wachsenden zeitlichen Abstand werde das Bild
«weichgespülter». Man müsse aber die dunkle Seite dieses Staates mi
t
alltäglichen Repressionen ausleuchten.

Bley wünscht sich mehr Engagement vom Bund. «Was nach wie vor auch
schwierig ist, es gibt keinen Lehrstuhl, der sich wirklich mit
DDR-Geschichte beschäftigt.» Das Schweriner Wissenschaftsministerium
müsse man loben, weil es dieses eigentlich durch den Bund finanzierte
Projekt unterstützt habe, als es eine Verlängerung brauchte, weil
während der Corona-Pandemie die Archive zeitweise geschlossen waren.
Auch wenn das Forschungsprojekt nun ende, stehe er als
Ansprechpartner bereit, falls sich weitere Zeitzeugen meldeten, so
Bley.

Hochstein hätte das Projekt gern weitergeführt, auch mit Blick auf
geglückte DDR-Fluchten über die Ostsee. Es fehle aber das Geld. Er
werde ab Frühjahr wahrscheinlich eine Laufbahn als Lehrer
einschlagen, sagt er. Die Arbeit zu dem Thema habe ihm verdeutlicht,
wie erbarmungslos die Weltgeschichte zu Einzelnen sein kann. Zu
Parallelen mit den Geflüchteten im Mittelmeer sagt er: «Es sind ganz
andere historische Zusammenhänge.» Aber am Ende fielen da Menschen
der Geschichte zum Opfer. «Und die sind die letzten, die da
irgendeine Verantwortung für tragen.»

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