Nahrungsergänzungsmittel für Kinder: sinnvoll oder unnütz? Von Anja Sokolow, dpa
Sie sehen oft aus wie Süßigkeiten und versprechen vieles - von
besserem Konzentrationsvermögen bis hin zum gesunden Immunsystem.
Nahrungsergänzungsmittel gibt es auch speziell für Kinder. Doch
brauchen sie die auch?
Berlin/Düsseldorf/München (dpa) - Viele Hersteller haben längst auch
die Jüngsten als Zielgruppe für Vitamine, Mineralstoffe und
Pflanzenextrakte erkannt. «Etwa 14 bis 19 Prozent der Kinder und
Jugendlichen im Alter von 12 bis 17 Jahren nehmen regelmäßig
Nahrungsergänzungsmittel», sagt die Ernährungswissenschaftlerin Anke
Weißenborn vom Bundesinstitut für Risikobewertung (BfR). «Das ist ein
signifikanter Anteil.» Bei jüngeren Kindern bis zu sechs Jahren seien
es noch unter zehn Prozent.
«Es wird stark in den sozialen Medien und von Influencern für
Kinder-Nahrungsergänzungsmittel geworben, häufig mit Aussagen, die
nicht einmal zulässig sind», sagt Angela Clausen von der
Verbraucherzentrale Nordrhein-Westfalen. «Oft suggeriert die Werbung,
dass Kinder, wenn sie vor neuen Herausforderungen stehen, unbedingt
Extra-Vitamine brauchen, zum Beispiel, wenn sie in die Schule
kommen», so die Expertin.
Vor allem besser verdienende Eltern setzten auf diese oft recht
teuren Produkte, nach dem Motto: «Man kann alles noch besser machen».
Die Kinder-Vitaminbärchen der Marke «Bears with benefits»
beispielsweise kosten 166 Euro pro Kilo. Die Gründerinnen Marlena
Hien und Laurence Saunier erklären dies unter anderem damit, dass s
ie
statt «billiger und gefährlicher» Nanopartikel und Füllstoffe
natürliche Lebensmittelfarbe aus Süßkartoffeln, Karotten oder
Blaubeeren nutzen und auf Trennmittel, Füllstoffe und Allergene
verzichten.
Doch wie sinnvoll sind Vitaminpräparate für Kinder überhaupt? Das
Bundesinstitut für Risikobewertung sieht die Mittel kritisch: «Wir
haben weder bei Kindern noch bei Erwachsenen einen Zusatznutzen
festgestellt», sagt Weißenborn, wissenschaftliche Mitarbeiterin der
Fachgruppe Ernährungsrisiken, Allergien und Neuartige Lebensmittel am
BfR. «Wenn wir über die Ernährung ausreichend versorgt sind, nütz
t es
gar nichts, zusätzliche Vitamine und Mineralstoffe einzunehmen», so
die Expertin.
Kinder in Deutschland seien im Allgemeinen über die normale Ernährung
mit ausreichend Nährstoffen versorgt. Nur bei einigen wenigen wie
etwa Vitamin D und Jod werde der von der Deutschen Gesellschaft für
Ernährung empfohlene Referenzwert nicht von allen erreicht. «Aber das
heißt nicht, dass diese Kinder automatisch im Mangel sind», so
Weißenborn. Und für Säuglinge werde eine Vitamin-D-Gabe von Ärzten
ohnehin empfohlen.
«In bestimmten Fällen können Nahrungsergänzungsmittel sinnvoll sein
,
etwa bei Kindern mit Stoffwechselerkrankungen», sagt Berthold
Koletzko, Kinderarzt und Experte für Stoffwechsel und Ernährung
am Dr. von Haunerschen Kinderspital der Universität München. Es g
ebe
auch bestimmte Phasen im Wachstum, in denen es zu Lücken in der
Nährstoffversorgung kommen könne, etwa bei Omega-3-Fettsäuren und
Eisen. Idealerweise könnten diese aber durch eine jeweils frisch
zubereitete, ausgewogene Ernährung ausgeglichen werden.
«Doch die Lebenswirklichkeit vieler Familien wird damit nicht immer
getroffen», sagt Koletzko. Oftmals bestimme Hektik den Alltag, eine
gesunde Ernährung sei nicht immer gewährleistet», so der Kinderarzt.
Trotzdem rät er davon ab, einfach Vitaminpräparate zu kaufen. «Man
sollte zunächst immer Kinder- und Jugendärzte um Rat bitten», so
Koletzko.
Auch Anke Weißenborn empfiehlt, eine Diagnostik vom Arzt durchführen
lassen und zu schauen, ob tatsächlich eine zusätzliche Aufnahme von
Vitaminen und Mineralstoffen angeraten ist. Vitaminpräparate könnten
langfristig auch gesundheitliche Schäden anrichten, warnt sie. «Was
über den normalen physiologischen Bedarf hinausgeht, kann für den
Körper eine Belastung sein.»
Vitamin D sei ein prominentes Beispiel dafür. «Seit Jahren wird immer
wieder gesagt, wir seien unzureichend versorgt und sollten es
zusätzlich einnehmen, um unser Immunsystem zu stärken.» Inzwischen
seien Fälle bekannt, in denen Eltern ihren Kindern sehr viel höhere
Dosen verabreicht hätten als empfohlen. «Das hat teilweise zu
schweren Störungen der Nierenfunktion geführt», so Weißenborn.
Auch bei anderen Präparaten könne es schnell zu Überdosierungen
kommen, gerade wenn sie Süßigkeiten ähnelten. «Es sind keine
harmlosen bunten Pillen und Gummibärchen, sondern da sind Stoffe
enthalten, die einen gesundheitlichen Schaden hervorrufen können»,
so die Expertin.
Ein weiteres Problem aus ihrer Sicht: «Zunehmend werden die Präparate
von den Herstellern auch noch mit Pflanzenextrakten, Fettsäuren oder
anderen Stoffen angereichert, die eine physiologische Wirkung haben.
Es kann kaum noch jemand überschauen, welche Wirkungen und auch
Wechselwirkungen diese Stoffe im Körper möglicherweise auslösen.»
Für Eltern sei es so gut wie unmöglich einzuschätzen, welche
Dosierung die richtige sei, sagt Angela Clausen. «Die
Prozentangaben auf den Verpackungen beispielsweise gelten nur für
Erwachsene», so die Expertin. Eine Untersuchung von 33 Produkten für
Kinder habe in diesem Jahr gezeigt, dass in 13 Fällen sogar die
Höchstmengenempfehlungen für Erwachsene erreicht oder überschritt
en
wurden.
Es gebe europaweit keine Höchstmengen für den Zusatz von
Mikronährstoffen oder sonstigen Stoffen zu Nahrungsergänzungsmitteln.
«Das ist ein großes Problem», so Clausen. Theoretisch könne jeder
Hersteller so viel oder so wenig in seine Produkte packen, wie er
möchte - vorausgesetzt, das Produkt ist sicher.
Das BfR hat Höchstmengenvorschläge für den Einsatz solcher
Mikronährstoffe in Nahrungsergänzungsmitteln entwickelt, allerdings
nur für Personen ab 15 Jahren. «Für Kinder haben wir keine
Höchstmengenvorschläge abgeleitet, unter anderem auch, weil damit
einer zusätzlichen Produktkategorie Vorschub geleistet worden wäre
»,
erklärt Anke Weißenborn. Diese habe sich allerdings trotzdem
etabliert. Auf «mikroco-wissen.de» hat das BfR Informationen üb
er
Mikronährstoffe gebündelt. Laut Weißenborn wird die Plattform noc
h um
Informationen, die speziell Kinder betreffen, erweitert.
«Es ist immer möglich und viel sinnvoller, die Nährstoffe über
übliche Lebensmittel aufzunehmen, anstatt in isolierter Form über
eine Pille», sagt sie. In normalen Lebensmitteln seien auch andere
wichtige Stoffe enthalten wie etwa Ballaststoffe. «Eine Vitamin-Pille
kann keinen Apfel und auch keine ausgewogene Ernährung ersetzen.»
«Kinder, die sich gesund und ausgewogen ernähren, benötigen keine
Nahrungsergänzung - dem stimmen wir voll und ganz zu», sagen
auch Marlena Hien und Laurence Saunier. Aber: «Als Mütter von vier
Kindern wissen wir, dass dies nicht immer der Realität entspricht
und viele Kinder zu einer sehr einseitigen Ernährung tendieren.»
Aus Sicht von Angela Clausen erwecken die Präparate einen falschen
Eindruck: «Wenn ich Probleme zum Beispiel mit der Schule habe, muss
ich nur eine Pille schlucken oder ein Vitaminbärchen essen und dann
wird alles wieder gut», so die Verbraucherschützerin. «Was Kindern
wirklich gut tut, ist eine abwechslungsreiche Ernährung, Bewegung
draußen, genügend Schlaf und Zeit mit den Eltern.»
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