«Hatte immer Angst» - Frühere Kurkinder leiden heute noch Von Christina Sticht, dpa

Es ist ein Stück dunkle Nachkriegsgeschichte. Millionen von Kindern
wurden zur Erholung ohne ihre Eltern in Kurorte geschickte - viele
kamen traumatisiert zurück. Einige «Verschickungskinder» starben
sogar. Daran wird nun in Niedersachsen erinnert.

Bad Salzdetfurth (dpa) - Es sollte ein Erholungsurlaub werden, doch
es wurde eine Zeit voller körperlicher und seelischer Qualen, die ihr
weiteres Leben prägte: Sabine Schwemm wurde im November 1968 als
Vierjährige ohne ihre Eltern zur Kinderkur ins Waldhaus im
niedersächsischen Bad Salzdetfurth geschickt. Was sie dort vor 55
Jahren erleiden musste, schildert sie in einem Vortrag beim
Jahreskongress der Initiative Verschickungskinder.

Wer aus Versehen ins Bett machte, musste stundenlang zur Strafe im
Nachthemd im kalten Waschraum mit dem Gesicht zur Wand in der Ecke
stehen. Kontakt zu den Eltern war für vier Wochen verboten. Als sie
heimlich die Personaltoilette im Keller benutzte, wurde sie in einem
dunklen Raum übers Knie gelegt und verdroschen. Nach der Rückkehr
erzählte Sabine Schwemm ihren Eltern nur von Schikanen durch andere
Kinder, nicht von den Strafen der Pflegerinnen, die «Tanten» genannt
wurden.

«Ich hatte immer Angst. Die Angst habe ich mitgenommen aus dem
Waldhaus», sagt Sabine Schwemm heute. Immer wieder kämpfte sie mit
Panikattacken und Angststörungen. Erst vor vier Jahren sei sie
zufällig auf die Internetseite der Initiative Verschickungskinder
gestoßen, berichtet die 59-Jährige. Sie habe fast der Schlag
getroffen, als sie die vielen Geschichten von Verschickungskindern
las, die ihrer ähnelten.

Rund 10 000 Berichte hat die Betroffenen-Initiative inzwischen
gesammelt. Redeverbot, Schlafzwang, Schikanen beim Essen: Was nach
1945 über Jahrzehnte in deutschen Kinderkurheimen an der Nordsee oder
in den Bergen passierte, ist noch nicht umfassend aufgearbeitet
worden. Millionen von Kindern im Alter zwischen zwei und zwölf Jahren
wurden zur Erholung ohne ihre Eltern in Kurorte geschickte - viele
kamen traumatisiert zurück.

Die Bundesregierung müsse endlich Verantwortung übernehmen und die
Aufarbeitung etwa mit der Schaffung eines Dokumentationszentrums
unterstützen, fordert die Gründerin der Initiative, Anja Röhl. Dazu
hat sie auch eine Internet-Petition gestartet. Nur zwei Bundesländer
- Baden-Württemberg und Nordrhein-Westfalen - hätten bisher Projekte
zur Aufarbeitung der Kinderverschickung gefördert, kritisiert Röhl.
Daneben gibt es einzelne Träger von Heimen, die Missstände von
Historikern untersuchen ließen.

Im Waldhaus in Bad Salzdetfurth wurde 1969 innerhalb weniger Monate
ein Dreijähriger von drei sechsjährigen Jungen totgeprügelt, ein
Siebenjähriger erstickte an Erbrochenem und ein Mädchen starb infolge
einer Infektion. Bei allen Todesfällen könne man zumindest
ansatzweise Fahrlässigkeit unterstellen, heißt es in einer Studie,
die die Diakonie dazu in Auftrag gab. Sie ist die
Nachfolgeorganisation des damaligen Trägers der Kinderheilanstalt.

Über erlittenes Leid müsse gesprochen werden, so dass auch andere
Betroffene erfahren: «Sie sind nicht allein und es wird ihnen
geglaubt», sagt Hans-Joachim Lenke, Vorstandssprecher der Diakonie in
Niedersachsen. Ein besonderes Anliegen sei, die Erinnerung an das
Leid der Kinder und an die drei Todesfälle wachzuhalten.

Im nächsten Jahr solle daher zum Gedenken eine Stele in unmittelbarer
Nähe zum Museum am Kurpark errichtet werden. Lenke: «Sie wird
insbesondere an Stefan, Kirsten und André erinnern, die 1969 in der
Kinderheilanstalt Bad Salzdetfurth während ihrer Kinderkur zu Tode
gekommen sind.»