Kriegstüchtige Medizin - Experten ziehen Lehren aus der Ukraine Von Carsten Hoffmann, dpa
Was bedeutet kriegstüchtig, was gesamtstaatliche Verteidigung?
Sanitätsoffiziere der Bundeswehr beobachten die Entwicklungen im
Ukraine-Krieg systematisch - und haben bemerkenswerte Erkenntnisse
gewonnen.
Koblenz (dpa) - Zerschossene Rettungswagen und ein Wettlauf gegen die
Zeit unter «Feinddruck»: Sanitätsexperten der Bundeswehr plädieren
für weitreichende Schlüsse aus einer systematischen Analyse des
bisherigen Kriegsverlaufs in der Ukraine. Es müssten mehr gepanzerte
und auch größere Rettungsfahrzeuge bis hin zu Lazarettzügen
beschafft, die Voraussetzungen für eine Erstversorgung bereits auf
dem Gefechtsfeld verbessert und die Zusammenarbeit mit zivilen
Gesundheitsdiensten in Deutschland ausgebaut werden. Das wird in
einer Untersuchung deutlich, die der Deutschen Presse-Agentur
vorliegt. Darin heißt es auch, nunmehr müssten «die geforderten
Bedarfe dringend und ohne weiteren Zeitverzug realisiert werden».
Für die Untersuchung hat das Kommando Sanitätsdienst der Bundeswehr
Bilder und Informationen aus der Ukraine systematisch ausgewertet und
Gespräche mit ukrainischem Sanitätspersonal geführt. Die
Verletzungsmuster sind durch die Folgen von Explosionen,
Granatsplitter, Verbrennungen und Verwundungen durch Chemikalien
bestimmt. «Die einzelne Schussverletzung ist nicht das Problem», sagt
Oberstarzt Kai Schmidt, der seinen Dienstsitz in der Koblenzer
Falckenstein-Kaserne hat. Als Fachmann für die Führung von Einsätzen
und das Lagezentrum hat er die vorliegenden Informationen
ausgewertet.
Das rote Kreuz als Zeichen des Sanitätsdienstes finde wenig bis keine
Beachtung durch die russischen Streitkräfte, wird in der Untersuchung
festgestellt und zahlreich dokumentiert. Und: «Es wurden sogar
offensichtlich sanitätsdienstliche Einrichtungen und Fahrzeuge
gezielt angegriffen, um nachhaltigen materiellen, personellen und
moralisch Schaden zu erzeugen. Es wird zudem nicht zwischen
militärischen und zivilen Kräften unterschieden.» Deswegen müssten
Fahrzeuge und Einrichtungen gegen Angriffe geschützt und hochmobil
sein.
Jeder zehnte Verwundete ist schwerverletzt. Zwei Drittel der bei
einem Angriff getöteten Soldaten starben in den ersten zehn Minuten,
ein weiteres Drittel ganz überwiegend binnen der ersten Stunde. Dies
verdeutlicht, wie wichtig eine sofortige Erstversorgung schon auf dem
Gefechtsfeld ist, wo lebensbedrohliche Blutungen binnen weniger
Minuten mit einem sogenannten Tourniquet - einem Abbindegurt -
gestillt werden müssen. Die Ärzte sind auf Fälle gestoßen, in denen
alle vier Extremitäten abgebunden und acht dieser Gurte zugleich
angelegt werden mussten.
«Mit fast einem Fünftel liegt die Zahl der Gefallenen im Ukraine-
Konflikt allerdings deutlich höher als die von der Nato kalkulierte,
welche auch als Grundlage für die deutschen Planungsrationale
verwendet wurde», wird festgestellt. Den Ausfallraten der Nato liegt
dabei die Annahme zugrunde, dass in etwa gleichwertige Gegner
aufeinandertreffen werden. Dabei richten sich die Blicke auf
Russland.
Verteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) spricht davon, dass die
Bundeswehr schnell fähig zur Landes- und Bündnisverteidigung werden
muss. Er rief «Kriegstüchtigkeit als Handlungsmaxime» aus.
In Nato-Staaten wurden Berechnungen angestellt, wie viele Verletzte
zu versorgen sind, wenn eine Division aus etwa 20 000 Soldaten im
hochintensiven Gefecht gegen einen gleichwertigen Gegner kämpft.
Deutschland hat der Nato für das Jahr einen solchen, gefechtsbereiten
Großverband als «Division 2025» zugesagt. Beim Einsatz an vorderster
Front ist mit mehreren hundert Verwundeten am Tag zu rechnen,
womöglich auch mit bis zu 1000 Soldaten, die versorgt werden müssen -
und auch in die Heimat zurückgeholt werden müssen.
Dabei setzen die Überlegungen Deutschlands bisher darauf,
Patiententransporte zu zwei Dritteln auf der Straße und zu einem
Drittel auf dem Luftweg realisieren zu können. Züge spielen keine
Rolle. In der Ukraine aber werden knapp zwei Drittel der Verwundeten
über die Schiene und ein Drittel auf der Straße zur sicheren
Behandlung gebracht. Der Luftweg ist die absolute und gefährliche
Ausnahme, weil die Ukraine keine Luftüberlegenheit hat.
Es lasse sich heute schon feststellen, dass in der Bundeswehr
«Großraumtransportmittel für hohe Patientenaufkommen fehlen und zur
Bewältigung der zu erwartenden Patientenzahlen deutlich mehr an
Transportkapazität benötigt wird», ist eine Erkenntnis. Gefordert
werden etwa Krankenkraftomnibusse. Und: «In der Konsequenz kommt auf
größerer Strecke der schienengebundenen Verlegung mit Lazarettzügen
besondere Bedeutung zu.»
Die Sanitätsexperten raten zudem, die Zusammenarbeit mit zivilen
Organisationen auszubauen und materiell und personell ausreichende
Reserven vorzuhalten. «Je mehr man von der Krise in den Krieg kommt,
desto mehr wird es auf die zivilen Fähigkeiten ankommen. Die zivilen
Kliniken in Deutschland müssen auch Kriegschirurgie können», sagt
Oberstarzt Schmidt.
Inzwischen wurden mehr als 900 verletzte ukrainische Soldaten zur
Behandlungen nach Deutschland gebracht. Sie wurden im Land verteilt
und größtenteils auf zivile Krankenhäuser, deren Ärzte nun oft zum
ersten Mal schwerste Kriegsverletzungen behandeln.
Dabei kommt Deutschland in den Konzepten der Nato eine besondere
Bedeutung als militärische Drehscheibe zu. Im Ernstfall wird man sich
aber auch selbst helfen müssen. So heißt es: «Entgegen der aktuellen
Lage in der Ukraine, wo viele Drittnationen Hilfe anbieten und
Patienten und Flüchtlinge aufnehmen, wird Deutschland im Falle von
Krise und Krieg weitgehend primär medizinisch und sanitätsdienstlich
auf sich alleine gestellt sein; so wie mutmaßlich jede andere Nation
in Europa ebenfalls.»
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