Aufklärung vor dem Internet-Zeitalter - Deutsche Aidshilfe wird 40 Von Gisela Gross, dpa
Vor 40 Jahren wurde einer Gruppe Menschen klar: Aids, das wird jetzt
richtig schlimm. Sie hoben in Berlin die Deutsche Aidshilfe aus der
Taufe. Was bis heute erreicht ist - und was nicht.
Berlin (dpa) - Es begann mit einem neuen Telefon in seiner Büroküche
in Berlin, das kaum mehr aufhören wollte zu klingeln. Am anderen Ende
der Leitung: aufgewühlte bis aufgelöste Menschen mit Fragen zu der
damals neuen Krankheit Aids, dem erworbenen Immunschwächesyndrom.
«Unser Ziel war es, irgendetwas zu tun», sagt Stefan Reiß. «Zum
Beispiel uns als Ansprechpartner zur Verfügung stellen, wenn Leute
abstrakte Angst haben vor der Krankheit. Die Gefahr der Hysterie war
damals das Zentrale.»
Der heute 72-jahrige Reiß ist einer von rund zehn Menschen, die auf
Initiative der Krankenschwester Sabine Lange und des Verlegers Bruno
Gmünder vor fast 40 Jahren in Berlin die Deutsche Aidshilfe (DAH)
gründeten. Das war am 23. September 1983. Die zunächst geheimnisvolle
Erkrankung wurde 1981 erstmals in den USA beschrieben, das HI-Virus
als Ursache erst zwei Jahre später entdeckt. Wer sich damals
infizierte, erkrankte fast immer an Aids, was den Tod bedeutete. «Wir
waren völlig überfordert. Wir hatten keinerlei Ausbildung für
Beratung», sagt Reiß über die Anfangszeit.
Unter den Gründern der Selbsthilfeorganisation waren schwule Männer
oder Menschen mit engen Kontakten zu ihnen. Wie etwa der Betreiber
einer Schwulenbar, dem Kunden oft ihr Herz ausschütteten, wie Reiß
erzählt. Hinzu kamen Menschen, die intravenös Drogen konsumierten
sowie Menschen in Sexarbeit und aus besonders stark von HIV
betroffenen Ländern. Das sind bis heute Kern-Zielgruppen.
Übertriebene Ängste?
Zu der Zeit habe es zunächst viele Menschen gegeben, die Aids für
aufgebauscht hielten und die um erkämpfte Emanzipation bangten,
erläutert DAH-Sprecher Holger Wicht. Andere wähnten demnach nur die
USA betroffen oder verdrängten das Thema. «Der Kipppunkt war 1983. Da
haben viele verstanden, wie gefährlich es ist.» Manche Menschen seien
damals teilweise häufiger auf Beerdigungen als auf Geburtstage
gegangen. Und es ging um die Frage: Kann man weiter Sex haben?
Krankenschwester Lange war für Stefan Reiß eine zentrale Figur: Sie
habe für medizinischen Sachverstand gestanden und das Vertrauen
vieler Schwuler genossen. Diese hätten sich in der damaligen
Landesimpfanstalt bei ihr anonym auf exotische Krankheitserreger
untersuchen lassen, die plötzlich gehäuft bei schwulen Männern
auftauchten. Sehr früh habe die schüchtern wirkende Frau bei Aids den
Ernst der Lage erkannt, auch durch Kontakte zu Erkrankten.
Die Lage in Deutschland
Von Epidemiebeginn bis Ende 2021 haben die Folgen einer HIV-Infektion
in Deutschland nach Schätzungen des Robert Koch-Instituts (RKI) mehr
als 32 000 Menschen das Leben gekostet. Die geschätzte Anzahl der
Neuinfektionen sank nach Spitzenwerten Mitte der 1980er Jahre bis
Ende der 1990er deutlich. Dann gab es eine Zeit lang einen
Wiederanstieg. Mit rund 1800 Infektionen 2021 liegt der Wert wieder
so niedrig wie zu Beginn der Nullerjahre.
HIV-Diagnosen werden oft erst Jahre nach der Infektion gestellt. Denn
die Symptome, die relativ kurz nach der Ansteckung auftreten, können
mild sein und werden oft fälschlicherweise als Infekt gewertet.
Danach sind Betroffene oft erst einmal längere Zeit beschwerdefrei.
Das RKI geht aktuell von rund 8600 Menschen hierzulande aus, die
nicht wissen, dass sie HIV-positiv sind.
Prävention vor dem Internetzeitalter
Der DAH ging es in der Anfangszeit etwa darum, Informationen zu
beschaffen und zu verbreiten. Das Internet gab es noch nicht.
Stattdessen: Flugblätter. 1984 erschienen zum Beispiel Tipps, wie man
sich verhalten soll, wenn ein Freund Aids hat. Ihn nicht meiden, für
ihn sorgen - solche Dinge. «Was sind wir dafür geprügelt worden, dass
wir Selbstverständlichkeiten aufschreiben», sagt Reiß.
Das große Problem sei die Verklemmtheit der damaligen Gesellschaft
gewesen. Kondome habe es in der Regel nur in Apotheken und auf
Männertoiletten gegeben. Über Homosexualität sei nicht offen
gesprochen worden. Kampagnen wie heute «nach dem Motto: Socken aus,
Kondom an»: undenkbar. Seit 1985 bekommt die DAH staatliche Förderung
für ihre Präventionsarbeit, wie Wicht sagt.
Mit der Zeit wurde mehr Klartext möglich. Die berühmte Kampagne «Gib
Aids keine Chance» und eine Telefonberatung der Bundeszentrale für
gesundheitliche Aufklärung (BZgA) begannen 1987. Die Rote Schleife
als Symbol der Solidarität mit Betroffenen gibt es seit 1991, erdacht
von einer Künstlergruppe in New York.
Aidshilfe heute
Die DAH ist heute ein Dachverband von rund 120 Einrichtungen in
Deutschland. Es dreht sich längst nicht mehr alles um HIV. Sondern
breiter um Gesundheitsfragen der Zielgruppen und verwandte Themen.
Als «Stimme der Betroffenen» würdigt Katja Römer aus dem Vorstand d
er
Deutschen Arbeitsgemeinschaft ambulant tätiger Ärztinnen und Ärzte
für Infektionskrankheiten und HIV-Medizin (dagnä) die DAH. Es bestehe
eine langjährige enge Kooperation, trotzdem gebe es durchaus
unterschiedliche Standpunkte, wenn es etwa um den Inhalt von
medizinischen Leitlinien gehe. «Aber es ist eine Bereicherung, die
Perspektiven der Community einzubeziehen.» Über sexuelle Gesundheit
aufzuklären und gegen das Stigma anzugehen, sei nach wie vor wichtig.
«Medizinisch haben wir HIV exzellent im Griff. Aber die Betroffenen
brauchen Unterstützung und Beratung.»
Was medikamentös möglich ist - und wo es noch hakt
Eine HIV-Infektion ist zwar bis heute nicht heilbar, die Viren lassen
sich aber medikamentös in Schach halten. Als Durchbruch gilt die
Kombinationstherapie, die um 1996 eingeführt wurde. Verläuft sie
erfolgreich und werden die Medikamente streng eingenommen, so könnten
Betroffene mit einer annähernd normalen Lebenserwartung rechnen,
schreibt der Verband forschender Arzneimittelhersteller. Einer
HIV-Infektion lässt sich mittlerweile auch durch Medikamente
vorbeugen: 32 000 Menschen hierzulande nutzen nach RKI-Angaben die
sogenannte PrEP (Präexpositionsprophylaxe).
Dass im Umgang mit HIV-positiven Menschen dennoch bis heute vieles im
Argen liegt, ist auch die Erfahrung der DAH, wie Sprecher Wicht sagt.
Ein Beispiel seien Berührungsängste gegenüber Betroffenen im
medizinischen Bereich. Diskriminierung sei häufig. «Wir haben viel
erreicht, sind aber noch nicht am Ziel.» Errungenschaften sieht Wicht
auch im heute viel liberaleren Umgang mit Drogenkonsum, etwa mit der
Ausgabe von sauberem Spritzbesteck. Geblieben seien zahlreiche
Anfragen von Menschen mit Ängsten und Fragen rund um HIV und Aids.
«Aber die Lage ist bei weitem nicht mehr so dramatisch wie damals.»
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