«Praxis dauerhaft geschlossen» - Hausärzte sind allmählich Mangelwa re Anika von Greve-Dierfeld, dpa

Im Südwesten verschlechtert sich die ambulante Versorgung in
atemberaubendem Tempo. Vor allem Hausärzte fehlen. Viele hundert
Patienten dürften in den nächsten Jahren ohne Hausarzt dastehen -
oder müssen lange Wege gehen.

Karlsruhe (dpa/lsw) - Nicht alle haben soviel Glück wie die Patienten
von Brigitte und Wolfgang Stunder. Die beiden Mediziner, 71 und bald
70 Jahre alt, suchten fünf Jahre lang nach einem Nachfolger für ihre
Hausarzt-Praxis in Zell am Hamersbach (Ortenaukreis). Dann bot sich
die Chance, die Praxis in ein neu gegründetes Medizinisches
Versorgungszentrum (MVZ) einzugliedern. Träger: Das
gemeinwohlorientierte Genossenschaftsprojekt rgv Kinzigtal, das von
ihnen und anderen Hausärzten mit initiiert wurde. Seither arbeiten
die beiden in ihrer Praxis weiter - nicht mehr selbstständig, sondern
als Angestellte. Viel Bürokratie haben sie damit von der Backe und
vor allem eine Last von der Seele: «Wir hätten es nicht über das Herz

gebracht, nach fast 40 Jahren als niedergelassene Ärzte einfach den
Schlüssel umzudrehen und unsere Patienten im Stich zu lassen», sagt
Brigitte Stunder.

Denn der Ärztemangel spitzt sich dramatisch zu, auch im Südwesten.
Gemeinden suchen oft händeringend nach einem Arzt, der sich in ihrem
Ort niederlassen will. Hausärzte suchen ebenso händeringend
Nachfolger für ihre Praxen. Laut dem Versorgungsbericht der
Kassenärztlichen Vereinigung Baden-Württemberg (KVBW) sinkt die Zahl
der Hausärzte stetig auf nunmehr rund 7000. Fast 930 Hausarztsitze
sind aktuell laut KVBW inzwischen unbesetzt - auch in attraktiveren,
städtischen Gegenden, wie Sprecher der Kassenärztlichen Vereinigung
Baden-Württemberg betonen. Im Jahr 2019 waren es noch gut 600.
Flächendeckend fehle inzwischen der Nachwuchs. «Es ist eine sehr
beunruhigende Entwicklung.»

Immer weniger Medizinerinnen und Medizinerinen wollen eine eigene
Praxis führen. Wegen der besseren Vereinbarkeit von Familie und Beruf
arbeiten sie stattdessen lieber als angestellte Ärzte - etwa in
Medizinischen Versorgungszentren, die es aber längst nicht überall
gibt. Ihre Zahl steigt Jahr für Jahr und liegt inzwischen bei rund
336 (Stand Januar 2023).

Die Gründe für den Hausarztmangel seien vielfältig und seit Jahren
bekannt: Viele Ärzte scheuten die mit der Selbstständigkeit
verbundenen Risiken und bevorzugten daher Angestelltenverhältnisse.
Außerdem legten sie inzwischen großen Wert auf Teilzeitmodelle. Gebe
ein Hausarzt seine Praxis etwa aus Altersgründen auf, seien damit
rechnerisch zwei Ärzte notwendig, um ihn zu ersetzen. Im
Medizinstudium werde das Thema der hausärztlichen Versorgung leider
sehr stiefmütterlich behandelt, sagt der Hausärzteverband
Baden-Württemberg.

Ebenfalls ein Problem: Sage und schreibe 37 Prozent der gut 7000
Hausärzte im Südwesten sind inzwischen über 60 Jahre alt und werden
in absehbarer Zeit aufhören. Unter ihnen sind 1400 Mediziner, die
bereits über das Rentenalter von 65 Jahren hinaus arbeiten. Ohne sie
wäre das System noch mehr aufgeschmissen.

Nachfolger zu finden, ist schwer. «Die Bürokratie ist ein Monster»,
sagt ein Hausarzt aus der Region Karlsruhe. Das wollten sich viele
nicht ans Bein binden. Auch seien die Vergütungen wie etwa für
Hausbesuche in Höhe von 22 Euro verglichen mit dem Zeitaufwand
einfach lachhaft. Ein Orthopäde, der innerhalb von ein paar Minuten
eine Hyaluronspritze ins Knie setze, können ein vielfaches verlangen.
«Da stimmt was im System nicht mehr.»

Ein weiterer Allgemeinmediziner aus Karlsruhe, der seine Praxis im
Karlsruher Ortsteil Grünwettersbach nach 18 Jahren schließt und nach
Norddeutschland zieht, sucht seit Pfingsten nach einem Nachfolger.
Nur einen Interessenten habe es gegeben - «diesem war offenbar das
Risiko zu hoch», vermutet er unter anderem. Bis zum 30. September
behandelt er seine Schützlinge noch. Spätestens dann müssen sie sich

nach einem anderen Arzt umsehen. Otmar John, ebenfalls Hausarzt in
Karlsruhe sucht seit zwei Jahren vergeblich. Er ist 70 Jahre alt -
und will seine Patienten ebensowenig im Stich lassen, wie es die
Stunders wollten. «Ich mache erst zu, wenn ich jemanden finde, der
meine Praxis übernimmt», sagt er.

Denn groß ist die Not bei Patienten, wenn ihr Hausarzt ohne
Nachfolger dicht macht. Sie begeben sich auf die Suche nach einem
neuen Hausarzt - oftmals vergeblich. Viele Praxen haben
Aufnahmestopp, weil sie schlicht keine Kapazität haben.

Momentan liege er mit der Zahl seiner Patienten 20 Prozent über
seinen eigentlichen Behandlungskapazitäten, sagt der Arzt aus der
Region Karlsruhe. Auch seine Praxis hat längst einen Aufnahmestopp
verhängt, Ausnahmen macht der Mediziner aber immer wieder. Vor allem
bei Angehörigen von Patienten oder Freunden. Die Dankbarkeit sei
riesig. «Eine Frau hat kürzlich geweint - nur weil wir sie als
Patientin aufgenommen haben.»

Abhilfe wird es nicht von heute auf morgen geben: So gab es kürzlich
in Sachen Telemedizin einen Dämpfer. Die KVBW hatte für das
vergangene Jahr von einem Rückgang um acht Prozent berichtet und eine
ähnliche Entwicklung auch für 2023 vorhergesagt. Es werde aber darauf
ankommen, digitale Angebote weiter voranzutreiben, sagte das
Sozialministerium. Die Gesundheitsversorgung stehe generell vor
enormen Umbrüchen.

In der Praxis des Arztpaares Stunder ist jetzt erstmal alles wie
immer. Die beiden könnten längst in Rente sein, lieben aber ihren
Beruf und haben jeweils eine 40-Stunden-Woche. Irgendwann wollen sie
ihre Arbeitszeit reduzieren. Einen Teil der Praxis, die Mitte 2024 in
ein neues Ärztehaus zieht, will ein Arzt übernehmen, der derzeit noch
seinen Facharzt macht. Um die Praxis auch künftig voll betreiben zu
können, braucht es aber mehr als einen Nachfolger. Die Suche geht
weiter.

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