Mediziner: Patienten mit seltenen Krankheiten brauchen «Kümmerer»
Hoher Leidensdruck und jahrelange Ärzte-Odyssee - für Betroffene
bedeuten unerkannte und seltene Erkrankungen oft große Belastungen.
Dabei ließe sich manches Leiden rasch kurieren, wenn alle Daten
einbezogen würden, sagt der Marburger Spezialist Jürgen Schäfer.
Marburg (dpa) - Zum zehnjährigen Bestehen des Marburger Zentrums für
unerkannte und seltene Erkrankungen hat dessen Leiter Jürgen Schäfer
eine bessere Versorgungsstruktur für betroffene Patienten angemahnt.
«Wir brauchen Kümmerer», sagte Schäfer der Deutschen Presse-Agentur
.
Gerade die Diagnose seltener und unerkannter Erkrankungen erfordere
eine ausgiebige Analyse der Krankheitsgeschichte der Betroffenen,
einen genauen Blick auf ihre Daten und oft auch die Einbindung ihrer
Angehörigen. Denn nur so lasse sich herausfinden, ob etwa genetische
Veranlagungen oder Neben- und Wechselwirkungen von Medikamenten
hinter einem Leiden steckten, ob die Ernährung oder andere Faktoren
eine Rolle spielten.
Rund 9500 Patientinnen und Patienten haben sich bisher an das Zentrum
am Universitätsklinikum Gießen und Marburg gewandt - etwa 3000 davon
konnten der Internist und sein Team helfen. Dies erfolgt mittlerweile
nicht mehr direkt vor Ort - das Zentrum wird im Rahmen eines
Zweitmeinungsverfahrens sowie konziliarisch bei Patientinnen und
Patienten im eigenen Haus tätig.
Gelegentlich habe es dabei auch schnelle Erfolge gegeben, sagt
Schäfer. So schildert der Internist den Fall einer Patientin, die
ähnliche Symptome wie bei einer Querschnittlähmung zeigte, die auf
einen Vitamin-B12-Mangel zurückzuführen waren. Als die Diabetikerin
mit einem entsprechenden Präparat versorgt wurde, habe sich ihr
Zustand rasch gebessert. Ihre behandelnden Ärzte baten das Marburger
Zentrum, der Ursache für den Mangel auf den Grund zu gehen, und das
Team um Schäfer fand heraus, dass es sich um eine seltene
Nebenwirkung eines Diabetes-Medikaments handelte. Daher sollte bei
neurologischen Störungen von Diabetikern immer auch an einen
Vitamin-B12-Mangel gedacht werden, sagte Schäfer. In einem anderen
Fall litt eine Frau unter starken Depressionen, die stationär
behandelt werden mussten - bis sich herausstellte, dass es sich um
Nebenwirkungen einer hormonfreisetzenden Spirale handelte, die sie
sich zur Verhütung hatte einsetzen lassen.
Solche Beispiele zeigen für Schäfer, wie wichtig es ist, alle
Patientendaten einzubeziehen und auch die Informationen von Ärzten
unterschiedlicher Fachrichtungen zusammenzuführen. Eine
«intelligente» elektronische Patientenakte wäre aus seiner Sicht
deshalb sinnvoll. Sie könnte beispielsweise automatisch auf bestimmte
Risiken von Medikamenten hinweisen.
Die Zahl der Ratsuchenden bei dem Zentrum ist groß. Auch aus ganz
Deutschland gebe es Anfragen, wobei Schäfer darauf hinwies, dass es
mittlerweile an allen Universitätskliniken ähnliche Zentren wie in
Marburg gebe. Doch die Zahl der Betroffenen ist hoch: Rund vier
Millionen Menschen in Deutschland leiden an einer seltenen
Erkrankung. Als selten gilt eine Krankheit dann, wenn sie höchstens
eine von 2000 Personen betrifft. Viele Betroffene hätten einen langen
Leidensweg hinter sich. Der sei auch häufig von der Angst geprägt, in
eine «Kiste gesteckt zu werden», sagt Schäfer - also unterstellt zu
bekommen, dass ihre Leiden rein psychischer Natur seien.
Das Zentrum sähen sie dann als letzte Hoffnung, auch wenn sie hier
extrem lange und belastende Wartezeiten in Kauf nehmen müssten. Im
Vergleich zu Herzinfarkt-Patientinnen und -Patienten, denen in
Deutschland schnell und umfassend geholfen werde, sei dieser
medizinische Bereich unterversorgt. Engagements wie das der Ehefrau
von Hessens Ministerpräsident Boris Rhein (CDU), Tanja Raab-Rhein,
die die Schirmherrschaft für den Förderverein für unerkannte und
seltene Erkrankungen in Hessen übernommen hat, seien deshalb von
großer Bedeutung. Mit Hilfe des Vereins soll sowohl die Erforschung
solcher Krankheiten als auch die Versorgung der Betroffenen
verbessert werden.
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