Ein Jahr nach dem Fischsterben - Bislang noch mal Glück gehabt? Von Silke Nauschutz, Monika Wendel und Friedemann Kohler, dpa
Bis zu 1000 Tonnen Fische und viele Muscheln starben im vergangenen
Sommer in der Oder. Der Schaden ist groß. Bislang blieb eine erneute
Umweltkatastrophe aus, obwohl die Ursachen nicht gestoppt sind. Die
Sorge um den Fluss scheint größer als die Erleichterung.
Küstrin-Kietz/Berlin/Potsdam (dpa) - Dieses Bild bekommt Oder-Fischer
Andre Schneider nicht mehr aus dem Kopf. Sein täglicher Blick auf den
ruhig dahinfließenden Fluss und dann der heiße Augusttag im
vergangenen Jahr, als ein riesiger Karpfen vorbeitrieb. «Es war der
Moment, als der Fisch sich erst drehte, dann die Augen verdrehte, so
als wollte er sagen: Nun hilf mir mal», erinnert sich der 39-Jährige.
Was er damals nicht ahnte: Es sollte noch schlimmer kommen.
Unzählige tote Fische verwesten im Sommer 2022 in der Oder - Bleie,
Plötzen, Karpfen, Zander. Auch Deutschlands einziger
Auen-Nationalpark an der Oder war in Gefahr. Fachleute gehen davon
aus, dass hoher Salzgehalt, Niedrigwasser, hohe Temperaturen und das
Gift einer Algenart mit dem Namen Prymnesium parvum Ursachen für das
Fischsterben waren. Ein Jahr später werden weiterhin stark überhöhte
Salzfrachten im Fluss gemessen, bislang ist ein erneutes
Massensterben jedoch ausgeblieben.
Noch mal Glück gehabt in diesem Jahr?
Viel Regen, der zum Anschwellen der Flüsse führt, und niedrigere
Temperaturen können dazu führen, dass die Wahrscheinlichkeit einer
starken Algenblüte geringer ist. «Es kann sein, dass vieles von den
Problemen weggeschwemmt wird und wir in diesem Jahr Glück haben»,
meint der Fischökologe vom Leibniz-Institut für Gewässerökologie un
d
Binnenfischerei (IGB), Christian Wolter.
Auch wenn bislang ein erneutes Fischsterben ausblieb, ist bei
Umweltschützern keine Entspannung zu spüren. Sie sehen weiterhin ein
Risiko für den Spätsommer und die kommenden Jahre, sollten Hitze und
niedrige Wasserstände der Blüte der toxischen Goldalge gute
Bedingungen bieten.
«Das gesamte Ökosystem der Oder ist nach der Umweltkatastrophe im
Sommer 2022 nach wie vor stark geschädigt», sagt
Bundesumweltministerin Steffi Lemke (Grüne). «Lokale Fischsterben in
Polen in einem Stausee und zuletzt im Juni dieses Jahres im
Gleiwitzer Kanalsystem zeigen, dass die Gefahr nicht gebannt ist,
auch wenn die Situation in der Grenzoder in Deutschland derzeit
keinen Hinweis auf ein mögliches Fischsterben gibt», heißt es aus dem
Bundesumweltministerium.
Hauptproblem Salzgehalt nicht gelöst - Rätsel um tückische Goldalge
Nach wie vor erreichen die Werte für den Salzgehalt in der Oder
gefährliche Höhen: Am 4. August etwa wurde als Indikator dafür eine
elektrische Leitfähigkeit von 2340 Mikrosiemens pro Zentimeter an der
Messstelle in Frankfurt (Oder) gemessen. Auch vor einem Jahr stieg
der Messwert auf über 2000, laut Wolter sollte er dagegen um die 600
bis 700 liegen. «Es werden Symptome bekämpft, aber an den Ursachen
passiert nichts», sagt der Wissenschaftler. Umweltorganisationen und
auch Bundesumweltministerin Lemke gehen davon aus, dass der hohe
Salzgehalt wahrscheinlich auf Abwässer aus der polnischen
Bergbauindustrie zurückgeht.
Zu einem tödlichen Cocktail wurde die Oder dann für viele Fische,
weil eine noch recht rätselhafte Algenart Gift produzierte. Forscher
wollen nun klären, ab welchem Salz-Grenzwert es zu einer
Massenentwicklung dieser Alge kommt. «Ich hoffe, dass wir nächstes
Jahr schlauer sind», sagt IGB-Gewässerökologe Jan Köhler.
Im Nationalpark Unteres Odertal wird regelmäßig kontrolliert, wie
sich die Goldalge in den Poldergewässern entwickelt. Bisher seien
sehr geringe Konzentrationen nachgewiesen worden, berichtet Leiter
Dirk Treichel. Grund für eine Entwarnung ist das für ihn nicht, dem
Fluss fehle seit der Katastrophe eine wichtige Stütze. Laut Treichel
verendeten im Sommer 2022 etwa 65 Prozent der Großmuscheln durch die
Einwirkung der Alge. Sie filtrieren das Wasser, sorgen für
Lichtdurchlässigkeit. Nun sieht der Fluss auffällig trüb aus durch
Schwebstoffe und Algen. Stattdessen bedeckt den Gewässerboden
teilweise eine 20 Zentimeter dicke Schicht aus Muschelresten.
Was tun Bund und Land zum Schutz der Oder?
Wie die Therapie für den verwundeten Fluss aussehen kann, darüber
gibt es in Polen und Deutschland unterschiedliche Haltungen. Das
Bundesumweltministerium steht seit vergangenem Jahr mit den für den
Gewässerschutz zuständigen Bundesländern, insbesondere Brandenburg,
und Polen in Kontakt - aber das Verhältnis bleibt angespannt. Es gab
Workshops, Konferenzen und die stete Forderung Lemkes an ihre
polnische Amtskollegin, die Salzeinleitungen deutlich zu reduzieren.
Der Warn- und Alarmplan für die Oder wurde überarbeitet, das
Monitoring des Flusses verbessert. Auch Polen überwacht die
Wasserwerte nach eigenen Angaben intensiver. Der Bund setzt vor allem
auch auf die Forschung: Das Leibniz-Institut für Gewässerökologie und
Binnenfischerei soll viele Fragen rund um die rätselhafte Goldalge
klären. Zudem stehen im Herbst wieder Probebefischungen der
Wissenschaftler in der Oder an. Der Bund für Umwelt und Naturschutz
sieht die Gefahr, dass ein Ausbleiben einer erneuten Katastrophe
«ambitionierte Maßnahmen zum Schutz der Gewässer bremsen» werde.
Wie geht es den Fischen im Fluss?
Seit der Oder-Katastrophe fehlen mehr als die Hälfte der Fische in
dem Fluss. Nach Schätzungen des IGB verendeten im vergangenen Sommer
bis zu 1000 Tonnen Fisch im Fluss. Der Lichtblick: Die Tiere können
zurückkehren und die Fortpflanzungsbedingungen sind laut Experten
gut.
Zwar ist weniger Fisch da, aber die Fischer holen große Zander, Welse
und andere Fische aus dem Fluss. «Ich bin momentan sehr guter Dinge,
denn es gibt auch viele Jungfische», sagt Fischer Schneider. Das
bestätigt auch der Geschäftsführer des Landesfischereiverbandes, Lars
Dettmann. «Die Biomasse wird innerhalb von zwei bis drei Jahren
wieder da sein, wenn keine neue Katastrophe passiert.»
Wie groß ist der wirtschaftliche Schaden - wie geht es dem Tourismus?
Der Schaden bei den Fischern durch die Umweltkatastrophe ist hoch.
Neun der elf Fischereibetriebe hatten beim Land Hilfen beantragt und
wurden für die Fangverluste des vergangenen Jahres entschädigt. Auch
für dieses Jahr soll Geld fließen. «Für das Jahr 2023 ist der Schad
en
viel größer, weil das Angelkartengeschäft schlecht lief. Das ist
wichtig für die Betriebe», beschreibt Dettmann. Das Land stellt
Gelder bereit, braucht aber ein Okay von der EU. Dettmann ist
zuversichtlich, dass das spätestens zum Winter passieren werde.
Wirtschaftlich war die Umweltkatastrophe auch ein Desaster für
Gastrobetriebe und Pensionen, die von Tagestouristen leben. In der
Kulturlandschaft gibt es keine großen Hotels, eher kleinere Pensionen
und Campingplätze. Durch das Fischsterben gingen laut
Tourismusverband Seenland Oder-Spree die Umsätze gegen Null. Auch in
dieser Saison ist die Gästezahl laut Geschäftsführerin Ellen Rußig
überschaubar. Auf dem Oder-Neiße-Radweg seien weniger Radfahrer
unterwegs, Pensionen und Restaurants würden um Umsatz kämpfen.
«Negativmeldungen mit immer der gleichen Frage: «Wann konnt das
nächste Fischsterben» wirken sich aus», meint Rußig.
Anhaltender Streit um Ausbau der Oder
Zankapfel zwischen den Nachbarländern Deutschland und Polen bleibt
der Oder-Ausbau. Auf polnischer Seite treibt der staatliche
Wasserwirtschaftsbetrieb Wody Polskie den Ausbau voran und lässt sich
auch durch mehrere Gerichtsurteile nicht stoppen. Am 21. Juli
verpflichtete das Bezirksgericht in Gorzow die Staatsanwaltschaft,
gegen die Bauaufsicht der Woiwodschaft Lebus zu ermitteln. Denn diese
will ihrerseits einen gerichtlich verhängten Baustopp nicht
durchsetzen.
«Es ist eine Art Sieg für die NGOs und Anwälte gegen die Politik der
Regierung», sagte der Umweltschützer Radoslaw Gawlik von der
Organisation Eko-Unia aus Breslau. Die Staatsanwaltschaft habe die
Ermittlungen sogar eingeleitet, sagte er der Deutschen
Presse-Agentur. Trotzdem macht er sich wenig Hoffnung, dass die
Arbeiten eingestellt werden. «Diese Institutionen werden verschiedene
Argumente und Tricks anwenden, um dies nicht zu tun.» Politisch ruhen
Gawliks Hoffnungen auf einer Abwahl der nationalkonservativen
PiS-Regierung im Herbst.
Der Führung in Warschau sind das Engagement der Umweltschützer für
die Oder und die Berichterstattung darüber ein Dorn im Auge. Der
Regierungsbevollmächtigte für Informationssicherheit, Stanislaw
Zaryn, sah aus Deutschland gesteuerte Kampagnen am Werk. Sie würden
dazu dienen, «Druck auszuüben, der den Interessen der Republik Polen
zuwiderläuft», sagte er in Warschau. Es werde so getan, als ob Polen
den Fluss vergiften wolle. Als einzige Rettung werde die Einrichtung
eines Landschaftsparks angepriesen. «Tatsächlich würde dies ein
Verbot von Modernisierungsprojekten bedeuten», sagte Zaryn.
Umweltschützer fordern ein Moratorium für den Oder-Ausbau.
Fischer hofft auf ein Frühlingshochwasser
Fischer Andre Schneider hofft jedenfalls, dass das «Thema Oder» nicht
im Politikalltag untergeht. «Der Fluss ist für uns Existenz,
Lebensader, Hoffnung», sagt der an der Oder Aufgewachsene und schaut
auf seine 11-jährige Tochter Luisa in ihren pinken Gummistiefeln. Sie
begleitet den Vater auf seinen Bootsfahrten. «Man kann nicht jeden
Tag bangen und sagen: Hoffentlich ist nichts - sonst macht man sich
selber kaputt», sagt er und versucht den Blick nach vorn. Was er sich
für die Zukunft wünscht? «Ein ordentliches Frühjahrshochwasser. Dan
n
können die Fische in Wiesen und Auen laichen.»
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