Experten: Tötungsfantasien werden bei Patienten oft übersehen Von Ira Schaible, dpa
«Mehr psychisch Kranke = Mehr Straftaten?» Über diese Fragestellung
haben Experten auf Einladung des rheinland-pfälzischen
Justizministeriums diskutiert. Und waren sich in vielem einig.
Mainz (dpa) - Die Amokfahrt mit fünf Toten in Trier, tödliche Schüsse
in einem Heidelberger Hörsaal oder ein vor den Zug gestoßener Junge
im Frankfurter Hauptbahnhof: Nach solchen Taten zeigt sich häufig,
dass die Täter psychisch erkrankt waren oder sind, wie der
rheinland-pfälzische Justizminister Herbert Mertin feststellt. In den
vergangenen zehn Jahren sei zudem die Zahl der wegen
Schuldunfähigkeit eingestellten Verfahren und der Sicherungsverfahren
deutlich gestiegen, berichtet der FDP-Politiker.
Zumindest subjektiv nehme auch eine gewisse «Lästigkeitskriminalität
»
zu. Also eine Verwahrlosungskriminalität im Alltag, bei der Menschen
stehlen, ständig pöbeln oder die Kassiererin bespucken, wie es die
Sachverständige für forensische Psychiatrie und Autorin, Nahlah
Saimeh, formuliert. Über Ursachen und Auswege solcher Entwicklungen
haben sie und andere Experten am Freitag in Mainz auf Einladung des
Justizministeriums diskutiert.
Eine tödliche Messerattacke wie im Regionalzug im
schleswig-holsteinischen Brokstedt auf ein junges Pärchen ist nach
Einschätzung Saimehs «überall in Deutschland möglich» und nicht i
mmer
zu verhindern. «Wenn ein Mensch an einer schizophrenen Psychose
erkrankt ist, ist sein individuelles Risiko erhöht, dass er
irgendwann gewalttätig wird» - bei Tötungsdelikten um den Faktor
zehn. «Der Täter fühlt sich bedroht, handelt aus diesem Gefühl hera
us
und kann sich nicht mehr steuern.» 72 Prozent der Opfer seien aus der
Familie oder dem sozialen Nahfeld, 12 Prozent seien völlig fremde
Menschen. Viele dieser Täter hätten aber eine lange Vorgeschichte.
«Es gibt deutliche Zeichen, dass psychische Erkrankungen zugenommen
haben», fasst der emeritierte Psychiatrie- und
Psychotherapie-Professor aus Magdeburg, Bernhard Bogerts, die
Studienlage zusammen. «Aber gibt es deshalb mehr Gewalttaten?» Rund
95 Prozent aller psychisch gestörten Patienten lebten gewaltfrei -
drei Prozentpunkte weniger als in der Normalbevölkerung. Etwa 10 bis
30 Prozent der Gewalttaten seien durch psychische Störungen
erklärbar.
Bei Amokläufern und terroristischen Einzeltätern habe etwa die Hälfte
Psychosen. Nach Einschätzung der Gießener Kriminologin Britta
Bannenberg spielt bei mehr als jedem dritten erwachsenen Amokläufer
eine paranoide Schizophrenie eine sehr große Rolle; nicht aber bei
Tätern um die 20 Jahre.
Die Mordrate liege in Westeuropa bei unter einem Mord pro 100 000
Einwohner pro Jahr, sagt Bogerts - «im historischen Kontext ein
denkbar niedriges Niveau». 80 Prozent der Täter seien Männer zwischen
18 und 30 Jahren, was sich auch mit genetisch bedingten
neurobiologischen Differenzen zu erklären sei. Zugleich berichteten
80 Prozent der Haftinsassen, früher Gewalt und Vernachlässigung
erlebt zu haben, aber nur etwa drei bis sechs Prozent der
durchschnittlichen Bevölkerung.
In der Psychiatrie wird der Fokus nach Einschätzung der Fachleute
aber zu sehr auf Eigengefährdung/Suizid und zu wenig auf
Fremdgefährdung und Tötungsfantasien gelegt. Patienten würden auch
häufig sehr früh entlassen. «Wir als Psychiater können das, was ein
Patient erzeugt, nicht immer wirklich benennen», berichtet Saimeh aus
Gesprächen. Manchmal bleibe ein «unterschwelliges
Bedrohungspotenzial», das sich nicht so klar einordnen lasse. Bei
einer Reihe junger Amokläufer seien die Tötungsfantasien in der
Psychiatrie nicht erkannt worden, ergänzt Bannenberg.
«Es bleibt mir ja auch nichts, wenn ich die feststelle», sagt der
Leiter des Maßregelvollzug im nordbadischen Wiesloch, Christian
Oberbauer. Der Betroffene verlasse dann die Klinik, vielleicht noch
mit einer Empfehlung und mache dann, was er für richtig halte. Der
Psychiater fordert deshalb eine Diskussion über den Sinn von
Behandlungsweisungen. Etwa drei bis vier Prozent der Menschen, die
schwere Straftaten begingen, seien an Schizophrenie erkrankt. «Man
kann sie gut erkennen. Oft waren sie schon viele Male in der
allgemeinen Psychiatrie.» Freiheitsentzug müsse auch als Fürsorge f
ür
Betroffene gedacht werden können, stimmt Saimeh zu.
Bei der Polizei, die als erste bei Gewalttaten eingreife, sollte es
Spezialisten geben, die einen «Sonderling» erkennen können, sagt
Kriminologin Bannenberg. «Das ist die erste Institution, die richtige
Weichen stellen kann.» Aus dem familiären Kreis, von Mitschülern und
Lehrern könne man nicht unbedingt auf Hinweise auf einen potenziellen
Amokläufer hoffen.
Hilfreich seien möglicherweise auch Präventionsambulanzen wie in
Bayern, bei den sich Menschen anonym und freiwillig in Behandlung
begeben, aber auch dafür vorgeschlagen werden könnten, sagt
Oberbauer. Diese Ambulanzen seien aufsuchend tätig und kümmerten sich
bei ihren Hausbesuchen der Patienten auch sozialarbeiterisch um
Fragen wie Wohnung, Verschuldung und das Lebensumfeld.
Oberbauer berichtet von einem enormen Anstieg an Neuzuweisungen im
Maßregelvollzug und viel zu wenig Personal, es fehlten auch
niedergelassene Psychiater. Dies alles führe auch dazu, dass die «gut
gedachte Stärkung der Patientenautonomie» mit dazu beitrage, dass
Menschen, die von der Versorgung schlechter erreicht würden, mehr
Straftaten begingen.
«Wir brauchen mehr Früherkennungszentren für schizophrene Psychosen
»,
sagt Bogerts. Das Vorlaufstadium dieser Erkrankungen erstrecke sich
meist über Monate und Jahre, das Risiko der Fremdgefährdung sei aber
schon in dieser Phase erhöht. Jede größere psychiatrische Klinik
müsse ein solches Früherkennungszentrum haben. Wichtig sei auch
Gewaltprävention - und zwar schon im Kindergarten. Denn Aggression
und Gewalt seien ein «multidimensionales Bedingungsgefüge» und
schlecht vorhersehbar.
Oberbauer fordert zudem eine Förderung der psychiatrischen Versorgung
von Migranten in Deutschland. «Die neuen Migranten seien völlig
alleingelassen in einer kulturfremden Umgebung», stellt er fest. Ihre
Behandlung sei schon wegen der Sprachprobleme und der Kommunikation
eine «enorme Herausforderung».
Viele, die sich unter Lebensgefahr auf die Flucht nach Deutschland
gemacht hätten, kämen ohne Bildung aus desaströsen Verhältnissen un
d
sehr gewalttätigen Gesellschaften, ergänzt Saimeh. Dieses menschliche
Elend und diese «kulturelle Obdachlosigkeit» müsse gesehen «und
daraus die Verantwortung abgeleitet werden, präventiv zu handeln».
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