Verfassungswidriges Abstempeln? Legastheniker rügen Zeugnisvermerke Von Valeria Nickel und Marco Krefting, dpa
Zeugnisse sehen nicht für alle gleich aus. Menschen mit Legasthenie
etwa erhalten in einigen Fällen einen Vermerk darüber, dass ihre
Rechtschreibung nicht benotet wurde. Das geht so nicht, finden drei
bayerische Abiturienten und zogen vor das höchste deutsche Gericht.
Karlsruhe (dpa) - Wer stellt jemanden ein, in dessen Zeugnis steht:
«Auf die Bewertung von Rechtschreibung wurde verzichtet»? Drei
ehemalige Abiturienten aus Bayern mit einer Lese-Rechtschreib-Störung
meinen, dass viele Arbeitgebende durch den Hinweis abgeschreckt
werden. Sie klagten dagegen vor dem Bundesverfassungsgericht. «Jeder,
der das liest, kann nur denken, dass der Bewerber zu dumm und
grottenschlecht für alles ist», hieß es in ihrer Stellungnahme, die
Anwalt Thomas Schneider in der Verhandlung am Mittwoch in Karlsruhe
verlas. Ein Urteil wird erfahrungsgemäß erst in einigen Monaten
erwartet.
Um Menschen mit Behinderung eine Chance in Schulprüfungen zu geben,
erhalten sie einen «Nachteilsausgleich». Das kann bei
Legasthenikerinnen und Legasthenikern zum Beispiel bedeuten, dass sie
mehr Zeit zum Schreiben bekommen. Außerdem gibt es in vielen
Bundesländern, etwa Bayern, die Option auf den sogenannten
Notenschutz. Auf Antrag lassen die Lehrkräfte die Rechtschreibung
nicht in die Noten mit einfließen. Sie vermerken im Zeugnis, dass sie
die Leistung anders bewertet haben. Nach Auffassung der Schulbehörden
soll dies die Aussagekraft von Zeugnissen sicherstellen, sagte der
Vorsitzende des Ersten Senats, Stephan Harbarth.
Die drei bayerischen Schüler, die 2010 Abitur machten, sehen sich
durch die Zeugnisbemerkung diskriminiert und klagten sich durch die
Instanzen. 2015 erteilte ihnen das Bundesverwaltungsgericht eine
Absage, weil nach seiner Ansicht kein Anspruch auf Notenschutz
bestehe ohne dessen Dokumentation im Zeugnis.
In der Verhandlung vor dem Verfassungsgericht bekräftigten die Männer
in ihrer Stellungnahme, dass die Kommentare sie im Berufsleben
einschränken. «Das ist, als ob wir einen Stempel bekommen mit der
Aufschrift: Vorsicht, willst du mich wirklich einstellen?»
Die Zeugnisbemerkungen schafften die nötige Transparenz, dass vom
allgemeinen Bewertungsstandard abgewichen worden sei, argumentierte
dagegen der bayerische Kultusminister, Michael Piazolo (Freie
Wähler). Das sei wichtig, weil gerade Abschlusszeugnisse objektiv
vergleichbar sein müssten. Die bayerische Gesetzeslage sei dabei
nicht einmalig, mehrere andere Bundesländer handhabten es ähnlich.
Der Anwalt der Kläger stellte die Abgrenzung zwischen Notenausgleich
und Notenschutz infrage. Er sehe keinen Unterschied zwischen einer
Hilfsmaßnahme wie einem Laptop, der automatisch die
Rechtschreibkontrolle übernehme, und der Nichtbewertung der
Rechtschreibung. Auch der Senat stellte der bayerischen
Staatsregierung viele Fragen zu der Unterscheidung zwischen
Nachteilsausgleich, Notenschutz und was wo einsortiert wird. Thema
war unter anderem auch, welche Rolle moderne Technik wie
Sprachassistenten und Rechtschreibprogramme für die Maßnahmen spiele.
Der Präsident des Deutschen Lehrerverbands, Heinz-Peter Meidinger,
betonte, dass in Schulen alles getan werde, um Diskriminierung zu
vermeiden. Schülerinnen und Schüler zeigten in der Regel nicht mit
dem Finger auf die Betroffenen oder seien neidisch auf die
Hilfsmaßnahmen. Quasi in jeder Klasse gebe es inzwischen jemanden mit
Legasthenie.
3,4 Prozent der Schülerinnen und Schüler in Bayern hätten eine Lese-
und Rechtschreib-Störung, sagte der berichterstattende
Verfassungsrichter Josef Christ. Laut Bundesverband Legasthenie und
Dyskalkulie sind etwa zwölf Prozent der Bevölkerung in Deutschland
von mindestens einer der Beeinträchtigungen betroffen.
Tanja Scherle, Vorsitzende dieses Bundesverbands und bayerische
Landesvorsitzende, sprach von vielen verunsicherten Eltern. Bei der
Entscheidung, ob Notenschutz beantragt und damit ein Zeugnisvermerk
in Kauf genommen werden soll, stünden sie vor der großen Frage:
«Verbaue ich meinem Kind die Zukunft?», sagte die Mutter dreier
Legastheniker.
Der Anwalt des Verbands, Johannes Mierau, verwies darauf, dass die
Zeugnisvermerke Grundrechte konterkarierten. Das Grundgesetz
verbietet es, Menschen mit Behinderung zu benachteiligen. Es ist
außerdem anerkannt, dass sie einen Anspruch auf Chancengleichheit bei
Prüfungen haben.
Für viele Arbeitgebende sei der «Warnhinweis» auf dem Zeugnis nicht
wichtig, sagte Daike Witt vom Zentralverband des Deutschen Handwerks.
Auswahlentscheidungen in der Arbeitswelt seien oft komplexer. Wenn
für einen Beruf die Rechtschreibung wichtig sei, könnte sie auch in
speziellen Eignungstests geprüft werden.
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