Was man in der Neiße-Stadt Guben von Toten lernen kann Von Silke Nauschütz und Patrick Pleul , dpa
Von den Toten etwas über das Leben erfahren: Das ist im Plastinarium
der Familie von Hagens in Guben möglich. Auch ein gelernter
Physiotherapeut konnte dem besonderen Einblick in den menschlichen
Körper nicht widerstehen.
Guben (dpa/bb) - Es ist eine stille Arbeit. Fast meditativ legt
Florian Zschiesche geschickt verschiedene Nervenstränge eines Kopfes
in die richtige Position. Manchmal überlegt er, welche
Lebensgeschichten sich hinter den Körperspendern verbergen, an denen
er arbeitet. «Längere Zeit zu arbeiten mit totem Material - da macht
man sich schon Gedanken, wer das mal war. Je mehr das an Normalität
gewinnt, umso einfacher ist es», beschreibt der 35-Jährige. Der
Physiotherapeut arbeitet seit zwei Jahren im Plastinarium von Gunther
von Hagens in Guben. Wissensdurst und Lust auf Neues brachten ihn
nach zehn Jahren Beruf in die Plastinationswerkstatt.
Die elf «Körperwelten»-Ausstellungen des Leichenpräparators von
Hagens haben in den vergangenen Jahren weltweit etwa 54 Millionen
Menschen besucht, auch Florian. Die Schau polarisiert noch immer. Der
Mediziner von Hagens hat die Kunst der Präparation von Leichen
perfektioniert. Für ihn sind Körperspender das «ethische Rückgrat
»
seiner Arbeit. «Der Skandalfaktor ist etwas zurückgegangen, die
Faszination ist exakt geblieben wie am Anfang», fasst sein Sohn Rurik
zusammen. Sein Vater sei Grenzgänger, vor allem aber Wissenschaftler.
Rurik von Hagens ist seit 2012 kaufmännischer Leiter des
Plastinariums, das sein Vater in Guben 2006 eröffnete. Der Start
sorgte damals für viel Aufsehen in der Region. In den Räumen der
ehemaligen Tuchmacherei wurden Ausstellung und Plastinationswerkstatt
untergebracht. «Es ist eben kein postmortaler Friedhof oder
Gruselkabinett. Es sind verstorbene Körperspender, die zu Plastinaten
werden», sagt Rurik von Hagens. Die Modelle werden zum überwiegenden
Teil für die Lehre gefertigt.
«Wenn ich Patienten auf der Liege hatte, hat mich immer gestört, dass
ich mir das, was ich gelernt hatte, immer vorstellen musste»,
beschreibt Zschiesche. «Ich wollte das eben genau wissen, damit ich
das, was ich gelernt hatte, nicht über Bord werfe.» Er zeigt auf
Muskeln und Nerven im Halsbereich des Präparats vor sich und erklärt,
warum einem beim Schlafen auch mal die Hand mit einschlafen kann. Von
der Ausbildung habe er fundiertes Wissen, im Plastinarium lerne er
aber weiter - durch die tiefergehende, dreidimensionale Anatomie.
Für Geschäftsführer Rurik von Hagens bringen Mitarbeitende wie
Florian Zschiesche beste Bedingungen mit. Quereinsteiger mit
anatomischem Vorwissen seien gern gesehen, aber kein Muss, betont von
Hagens. «Jeder sollte sich zunächst die Frage stellen, ob diese
Arbeit etwas für ihn ist und zudem ein Grundinteresse an Anatomie
haben.» Nach einer Probewoche werde den neuen Mitarbeitenden jemand
zur Seite gestellt und es beginne ein «strukturiertes learning by
doing». Bis die Angestellten schwierige Arbeiten wie etwa die
Positionierung von Nervensträngen übernehmen können, dauert es
Monate.
Von Hagens geht durch die 3000 Quadratmeter Ausstellungsfläche,
vorbei an ausgestellter Anatomie von Mensch und Tier und Bereichen,
die Prozesse der Plastination und Präparationstechniken anschaulich
machen. Sie sind ihm vertraut. Als Schüler hat er bei seinem Vater
mitpräpariert. Der Tod habe für ihn ein anderes Gesicht.
Vor großen Glasfenstern bleibt er stehen, hinter denen Mitarbeitende
in Schutzkleidung mit Handschuhen und Pinzetten Gewebe von Gliedmaßen
entfernen. Sie gehören zu den rund 70 Angestellten, die Lehrpräparate
und anatomische Großplastinate für die Ausbildung von Ärzten und
medizinischen Laien fertigen. Bereitwillig erläutern sie ihre Arbeit
und beantworten Fragen. So werden etwa die meisten der Arme, Beine
oder auch ganze Körper zu wissenschaftlichen Zwecken an Universitäten
verkauft. Bis zu 1500 Arbeitsstunden stecken beispielsweise in einem
Ganzkörperpräparat - Anschauungsmaterial für Ärzte und Studierende.
«Wir arbeiten darauf hin, dass jede Universität unsere Präparate fü
r
den Unterricht verwenden sollte», gibt der Diplom-Kaufmann das Ziel
vor. Bis dahin sei noch eine Wegstrecke zurückzulegen. Inzwischen
entwickeln die von Hagens die Fertigung der Präparate weiter. So
sollen sogenannte Scheibenplastinate für die Lehre dünner werden,
damit man sie unter Mikroskopen besser sieht und sie nicht vergilben.
Zum ersten Mal ist auch ein Körperspender eingetroffen, der eine
Geschlechtsanpassung vorgenommen hatte. «Da interessiert natürlich,
was anatomisch das Ergebnis war», sagt von Hagens. Das Plastinarium
hat eine Datei mit über 20 000 Körperspendern, 2700 Verstorbene sind
in den vergangenen Jahren angekommen, viele wurden schon plastiniert.
Elisa Draht und ihre Freundin Lene Oderich sind aus Berlin angereist
und fasziniert von der handwerklichen Arbeit und der ruhigen Hand der
Angestellten, die an den Körperteilen arbeiten. «Ich finde es schön,
dass sie das im Auftrag der Wissenschaft tun», sagt die 19-jährige
Elisa. Durch die Modelle bekomme man einen Einblick in den eigenen
Körper, findet Lene. Beide sind sich einig: Ausstellung und
Plastination sind auch etwas für Schulklassen.
Das sah das Land Brandenburg lange anders. 16 Jahre gab es ein Verbot
für Brandenburger Schulklassen, das Plastinarium im Unterricht zu
besuchen. Das Verbot wurde 2015 auf die Berliner Ausstellung
«Körperwelten» ausgeweitet. Zur Begründung hieß es: Der Besuch se
i
nicht vereinbar mit dem Bildungs- und Erziehungsauftrag. Stattdessen
kamen Klassen aus Sachsen, Berlin und Polen. «Die meisten Kritiker
entschieden vom grünen Tisch aus, ohne sich selbst einen Eindruck
verschafft zu haben», schüttelt von Hagens heute noch den Kopf.
Im vergangenen November kam dann die überraschende Kehrtwende: Das
Bildungsressort hob das Besuchsverbot auf. Und mehr noch: Die
zuständige Referatsleiterin Regina Büttner bestätigte «einen groß
en
pädagogischen Mehrwert» der Ausstellung, auch für den Unterricht.
Für den Gubener Bürgermeister Fred Mahro sind die von Hagens schon
lange eine Bereicherung für die Stadt - nicht nur wegen der
geschaffenen Arbeitsplätze und ihres Bekanntheitsgrads. Die Nutzung
der ehemaligen Hutfabrik für das Plastinarium habe historische
Altbausubstanz der Stadt erhalten, sagt der Bürgermeister.
Florian positioniert indes zur Orientierung Stecknadeln in dem
plastinierten Körper, die den Verlauf von Nerven und Muskeln
kennzeichnen. Ab und zu schaut er dazu in ein Anatomiebuch. Dort ist
abgebildet, was am häufigsten vorkommt. In der Natur gebe es aber
manchmal Unterschiede, erklärt der Präparator. So verliefen
Blutgefäße anders, Knochenwucherungen deuteten auf Krankheiten hin.
«Die Lebenden lernen von den Toten, hat meine Oma gesagt.»
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