Mehr Hilfen für psychisch kranke Jugendliche gefordert Von Christina Sticht, dpa

Häufig leiden sie im Verborgenen: Seit der Pandemie haben viele
Mädchen und Jungen mit Depressionen und Ängsten zu kämpfen. Ihre
Familien verzweifeln oft bei der Suche nach einem Therapieplatz.

Hannover (dpa) - Zunächst bekommen oft selbst Familie und Freunde
wenig von den Veränderungen mit. Jugendliche ziehen sich zurück,
sprechen wenig, kommen morgens kaum aus dem Bett. Im Laufe der
Pandemie nahmen psychische Störungen bei Jugendlichen deutlich zu.
Statt sich der Mutter oder einer Freundin anzuvertrauen, beginnen
einige damit, sich selbst zu verletzen - oft mit Rasierklingen an
Armen und Beinen. Das sogenannte Ritzen ist vor allem bei Mädchen und
Jungen mit psychischen Problemen beziehungsweise Krankheiten
verbreitet.

Auch bei seinem Kind fing die «Ritzerei» im Corona-Lockdown 2020 an,
wie ein Vater aus Niedersachsen im Gespräch mit der Deutschen
Presse-Agentur erzählt. Die Hausärztin beruhigte ihn zunächst, dass
das viele Jugendliche mal ausprobierten. Doch in der Erstberatung
einer Kinder- und Jugendtherapeutin wurde eine beginnende Depression
festgestellt. Monatelang suchte die Familie daraufhin vergeblich nach
einer Psychotherapeutin für eine ambulante Therapie, dazwischen kamen
Klinikaufenthalte. Schließlich riss das Kind mit einem anderen
Teenager von zuhause aus und wurde erst Tage später gefunden.

Wenn ein Kind psychisch erkrankt, gerät auch die Welt der Eltern und
Geschwister aus den Fugen. Hinzu komme die zermürbende Suche nach
Unterstützung, sagt der Vater. Er schrieb E-Mails und telefonierte
Therapeuten und Kliniken ab. Er ging zum Jugendamt und bat in einem
Brief Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) um Hilfe. «Man
hat keinen Fahrplan und ist völlig alleingelassen», sagt er. Immer
wieder gebe es bürokratische Hindernisse. Anderthalb Jahre habe die
Familie dann eine Therapeutin privat bezahlt. Seine Odyssee
schilderte er zuerst der «Celleschen Zeitung».

Mehrere Studien belegen, dass Kinder und Jugendliche in der
Corona-Zeit besonders gelitten haben: Von heute auf morgen fielen
Sport und Musik weg, Freunde durften nicht mehr getroffen werden. Wie
aus Daten der Krankenkasse DAK hervorgeht, nahmen Depressionen und
Essstörungen vor allem bei Mädchen im Alter zwischen 15 und 17 Jahren
stark zu. Bei vielen blieben die Probleme bestehen.

Die Nachfrage nach Psychotherapeutinnen und -therapeuten, die Kinder
und Jugendliche behandeln, lag noch im Sommer 2022 um 48 Prozent
höher als in der Vor-Corona-Zeit. Das ergab eine Umfrage der
Deutschen Psychotherapeutenvereinigung. Die Kinder- und
Jugendlichentherapeutin Cornelia Metge aus Zschopau in Sachsen sieht
in ihrer Praxis, dass viele Kinder als Folge der Pandemie massive
Ängste im Alltag haben. «Wir haben als Gesellschaft die Verantwortung
und die Verpflichtung, diese Kinder zu unterstützen», betont Metge,
die sich im Vorstand der Bundespsychotherapeutenkammer (BPtK)
engagiert.

Metge beobachtet, dass auch wegen des Lehrkräftemangels in den
Schulen neben der puren Wissensvermittlung wesentliche Dinge zu kurz
kommen. «Schule sollte auch ein Ort der Begegnung sein; ein Ort, wo
man auch erzählen kann, dass man Probleme und Schwierigkeiten hat
zuhause. Dafür ist viel zu wenig Zeit», beklagt sie.

Zudem müsse die Prävention einen höheren Stellenwert bekommen.
«Psychische Gesundheit sollte ein fester Bestandteil des Unterrichts
werden», wünscht sich Metge. Schon mit jungen Kindern könne
besprochen werden: Was macht mich fröhlich, was macht mich traurig?
Bereits in der Kita und Grundschule könne es Kurse zur
Stressreduktion oder zum Umgang mit Konflikten geben.

Die Bundesregierung hat ein Maßnahmenpaket beschlossen, das die
Folgen der Pandemie für Kinder und Jugendliche abfedern soll. Ein
Schwerpunkt ist die psychische Gesundheit. Unter anderem sollen in
einem Modellprojekt sogenannte Mental Health Coaches besonders
belastete Schulen unterstützen.

Dieses befristete Modellprojekt werde den Anforderungen keineswegs
gerecht, kritisiert der Berufsverband Deutscher Psychologinnen und
Psychologen (BDP). Vielmehr müsse endlich der internationale Standard
bei der Versorgung mit Schulpsychologen angestrebt werden.

«Ideal wäre es, wenn ein Schulpsychologe auf höchstens 1500
Schülerinnen und Schüler kommt, so wie in anderen europäischen
Ländern», sagt Andrea Spies, Vorsitzende der Sektion Schulpsychologie
im BDP. «Bei uns ist das Verhältnis 1 zu 5400, in manchen
Bundesländern wie Sachsen-Anhalt, Niedersachsen und Brandenburg sogar
noch weit schlechter.» Schulpsychologische Beratung werde derzeit so
nachgefragt wie nie. «Die Psyche reagiert auf Krisen immer
zeitversetzt und meist überdauernd», betont Spies.

Psychisch erkrankte Jugendliche müssen meist Monate auf einen Platz
für eine ambulante Therapie warten. In der Corona-Zeit waren es laut
einer Befragung der Universität Leipzig im Schnitt 25 Wochen. Die
Bundespsychotherapeutenkammer fordert eine Änderung der
Bedarfsplanung. Außerhalb von Ballungsräumen und im Ruhrgebiet seien
insgesamt 1600 zusätzliche Psychotherapeutensitze notwendig. 20
Prozent von allen Sitzen müssen laut gesetzlicher Vorgabe für Kinder
und Jugendliche reserviert sein.

Was sind die Risikofaktoren für eine psychische Erkrankung von
Kindern und Jugendlichen? Häufig trifft es Kinder aus ärmeren
Familien, mit allein erziehenden Müttern, psychisch belasteten Eltern
oder solche, die in beengten Wohnverhältnissen leben. «Bei uns traf
es eine intakte Familie ohne Geldprobleme», sagt der Vater aus
Niedersachsen. Bei seinem Kind habe wohl auch Mobbing in der Schule
vor Corona eine Rolle gespielt, im Lockdown seien die Handy- und
Internet-Zeiten aus dem Ruder gelaufen, gleichzeitig fielen geliebte
Hobbys und der Vereinssport weg.

Häufig sind psychische Erkrankungen der Grund dafür, dass Mädchen und

Jungen keinen Schulabschluss schaffen, auch wegen der langen
Fehlzeiten in den akuten Phasen. Wenn eine Krankheit chronisch wird,
hat dies negative Auswirkungen auf das ganze Leben. «Die psychische
Gesundheit wird in unserer Gesellschaft immer noch nicht ernst
genommen und psychische Erkrankung tabuisiert», kritisiert
Schulpsychologin Spies. «Kinder und Jugendliche haben in der Pandemie
am meisten gelitten. Deshalb wäre die Politik gut beraten, jetzt
einen Masterplan aufzusetzen.»

Tanja Brunnert, Vize-Sprecherin des Berufsverbandes der Kinder- und
Jugendärzte, sagt: «Insgesamt haben wir es auch heute in unserem
normalen Praxisalltag häufiger mit psychischen Problemen der Kinder
und Jugendlichen zu tun als vor der Pandemie.» Sinnvoll wären aus
Sicht der Kinderärztin aus Göttingen mehr niedrigschwellige Angebote
der Kommunen, also Familienberatungsstellen, wie sie in vielen
Städten bereits existieren. Aber auch eine Stärkung der Angebote von
Sportvereinen, Jugendfeuerwehren oder Pfadfindergruppen sei wichtig.
«Diese bieten Kindern und Jugendlichen Struktur in ihrer Freizeit und
fördern das Verhalten in einer Gruppe Gleichaltriger.»

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