«Verabreichter Tod»? Streitthema Sterbehilfe treibt Frankreich um Von Rachel Boßmeyer, dpa

Darf unheilbar kranken Menschen aktiv beim Sterben geholfen werden?
In Frankreich haben Bürger intensiv darüber diskutiert, und der Ball
liegt nun bei der Regierung und bei Präsident Macron. Doch das Thema
erhitzt die Gemüter und spaltet die Gesellschaft.

Paris (dpa) - Wie viel Leiden muss ein todkranker Mensch aushalten,
und darf das Leben ärztlich beendet werden? In Frankreich sollte ein
Bürgerkonvent nach monatelanger Beratung Premierministerin Élisabeth
Borne am Sonntag Handlungsvorschläge zum Lebensende unterbreiten und
sich dabei auch der heiklen Frage der Sterbehilfe widmen. An diesem
Montag steht ein Treffen mit Präsident Emmanuel Macron an. Der hatte
bereits angekündigt, mögliche Gesetzesänderungen könnten bis Ende
kommenden Jahres getroffen werden.

Wie in Deutschland ist in Frankreich die aktive Sterbehilfe, also
einem Menschen ein tödlich wirkendes Mittel zu verabreichen,
verboten. Passive Sterbehilfe durch das Abschalten von Apparaten und
indirekte Sterbehilfe, bei der starke Medikamente Schmerzen lindern
und als Nebenwirkung das Sterben beschleunigen, sind zulässig.

In den vergangenen Jahren hatten mehrfach Fälle von Schwerkranken, um
deren Tod gerungen wurde, für heftige Debatten gesorgt. Diskussionen
über Gesetzesänderungen brachten in Macrons erster Amtszeit kein
Ergebnis. Im Herbst kam neuer Schwung in die Debatte: Frankreichs
Ethikrat erklärte eine ethische Anwendung aktiver Sterbehilfe unter
bestimmten strengen Voraussetzungen für denkbar. Zugang sollten nur
unheilbar kranke Erwachsene haben, die nicht zu lindernde körperliche
oder psychische Leiden haben und deren Erkrankung mittelfristig
lebensgefährlich ist. Gesundheitspersonal solle die aktive
Sterbehilfe persönlich ablehnen können - verbunden mit der Pflicht,
die Betroffenen weiterzuvermitteln.

Das Streitthema spaltet. Mehrere Organisationen aus dem Pflegebereich
forderten, das Personal solle bei aktiver Sterbehilfe außen
vorgelassen werden. Sie warnten vor einem «großen ethischen Ruck».

Sterbehilfe sei ein «medizinisch verabreichter Tod», der die Pflege
unterwandere und die kollektive Ethik beenden würde.

Mediziner Régis Aubry hingegen schrieb auf der Onlineplattform
«Mediapart»: «Pflegen heißt nicht, seine Überzeugungen aufzuzwing
en,
sondern die der anderen zu respektieren.» Auch sein Kollege François
Guillemot meint: «Es ist nicht am Arzt oder an den Philosophen zu
entscheiden. Euthanasie ist keine Sterbehilfe, sondern eine Hilfe,
seine Entscheidung zu leben.» Mehr als 55 000 Menschen unterschrieben
eine Petition, die das Verbot aktiver Sterbehilfe in Frankreich als
ungerecht bezeichnete.

In Deutschland verläuft die Diskussion ähnlich kontrovers. Denn auch
hier muss die Sterbehilfe gesetzlich neu geregelt werden, nachdem das
Bundesverfassungsgericht 2020 das seit 2015 bestehende Verbot der
geschäftsmäßigen - also auf Wiederholung angelegten - Sterbehilfe
gekippt hatte. Begründung: Dieses verletze das Recht des Einzelnen
auf selbstbestimmtes Sterben. Es liegen drei fraktionsübergreifende
Entwürfe für eine Neuregelung vor, über die der Bundestag im Juni
2022 erstmals diskutierte. Eine Entscheidung steht noch aus.

Trotz des Verbots nutzen heute schon Menschen aus Frankreich
Sterbehilfe. Immer wieder gibt es Berichte über Kranke, die zum
Sterben in die französischsprachigen Nachbarländer Schweiz und
Belgien fahren. In Belgien dürfen Erwachsene seit 2002 um ihren Tod
bitten. Im vergangenen Jahr erhielten dort knapp 3000 Menschen
Sterbehilfe - 53 von ihnen kamen aus Frankreich, wie Zahlen der
staatlichen belgischen Sterbehilfe-Kommission belegen.

Der belgische Mediziner Yves de Locht, der selbst Sterbehilfe gibt,
meinte im «Parisien» allerdings: «Wir wollen nicht das Sterbeheim der

Franzosen werden!» Roxane Guichard, deren Mutter durch belgische
Sterbehilfe den Tod fand, sagte im Magazin «L'Obs»: «Sich zum Sterben

ins Ausland begeben zu müssen, fügt einem großen Leiden weitere
Kleine hinzu.» In Frankreich hätte ihre Mutter auf ihrem letzten Weg
von mehr Menschen begleitet werden und in der Heimat sterben können.

Es gibt aber ebenso Berichte über Sterbehilfe, die heimlich in
Frankreich geleistet wird. «Wir sind viele, die es gemacht haben»,
sagte der Mediziner Guillemot «Mediapart». Auch der klinische
Psychologe Olivier Bury, der in Belgien im Bereich der Sterbehilfe
arbeitet, schrieb in der Zeitung «Le Monde»: ««Anderweitige
Euthanasie» wird in Frankreich bereits an zahlreichen Orten und in
zahlreichen Situationen praktiziert, ohne jegliche Kontrolle oder
Rahmen.» Ein Gesetz gebe Patienten und Ärzten Rechte.

Innerhalb des Bürgerkonvents sprachen sich drei Viertel der per Los
bestimmten Mitglieder für einen Weg hin zu aktiver Sterbehilfe aus,
sofern diese in Pflege und Begleitung der Patienten eingebettet ist.
Doch was die Regierung und Macron aus den Empfehlungen machen werden,
ist ungewiss. Macron hatte sich bei dem Thema bisher bedeckt gehalten
- wohl auch um Konservative und Katholiken nicht zu verprellen.