Bis zu 7,6 Millionen Menschen könnten im Jahr 2055 Pflege brauchen Von Isabell Scheuplein, dpa

Die Menschen werden älter, damit steigt der Pflegebedarf. Eine neue
Berechnung sieht einen deutlichen Anstieg bis Mitte des Jahrhunderts.
Die derzeitigen Reformvorhaben reichten zu dessen Bewältigung nicht
aus, heißt es von Experten und Verbänden.

Wiesbaden (dpa) - Die Zahl pflegebedürftiger Menschen könnte nach
neuen Berechnungen allein durch die zunehmende Alterung bis zum Jahr
2055 in Deutschland auf rund 6,8 Millionen Menschen ansteigen. Das
wäre ein Plus von 37 Prozent im Vergleich zum Jahr 2021, teilte das
Statistische Bundesamt am Donnerstag in Wiesbaden mit. Grund sind die
Babyboomer, also die geburtenstarken Jahrgänge. Anschließend seien
keine großen Veränderungen mehr zu erwarten, im Jahr 2070 wären etwa

6,9 Millionen Pflegebedürftige in Deutschland möglich. Für das Jahr
2035 geht das Bundesamt von etwa 5,6 Millionen Pflegebedürftigen aus.

Der Vorausberechnung legt das Bundesamt einen konstanten Anteil von
Pflegebedürftigen an der Bevölkerung zugrunde. Die Behörde
veröffentlichte zudem eine Berechnung auf Grundlage eines höheren
Anteils: Dann läge die Zahl der Pflegebedürftigen im Jahr 2035
bundesweit bereits bei 6,3 Millionen (plus 27 Prozent gegenüber 2021)
und im Jahr 2055 bei 7,6 Millionen (plus 53 Prozent). Im Jahr 2070
wäre dann eine Zahl von 7,7 Millionen möglich (plus 55 Prozent).

Je weiter in der Zukunft, desto schwerer vorhersehbar ist die
Entwicklung. Das Bundesamt erklärte, deshalb handele es sich nicht um
Prognosen, sondern um mögliche Entwicklungen. Johannes Geyer vom
Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) sagt, in der
Vergangenheit hätten sich die meisten Schätzungen als zu konservativ
erwiesen. So sei man vor zehn Jahren noch von weniger als vier
Millionen Pflegebedürftigen im Jahr 2030 ausgegangen.

Entscheidend sei die Zahl der Empfängerinnen und Empfänger von
Leistungen. Diese könne künftig auch deshalb höher ausfallen, wenn
die Regelungen, wer Leistungen erhalte, noch weiter gefasst werden.
Derzeit erfolge Pflege zudem häufig in der Familie. Gebe es eine
steigende Zahl von Alleinlebenden und kleineren Familiennetzwerken,
sei dies nicht mehr im bisherigen Umfang möglich.

Klar sei: «Der Druck auf die Familien, die den Hauptteil der Pflege
tragen, und auf den jetzt schon mit Personalmangel kämpfenden
Pflegesektor wird steigen», sagte der Experte. Gleiches gelte für den
Kostendruck in der Pflegeversicherung. Die derzeitige politische
Debatte konzentriere sich sehr stark auf den stationären Bereich.
Menschen wollten aber ihren Lebensabend meist in ihrer vertrauten
Umgebung verbringen. Deshalb müsse auch darüber nachgedacht werden,
die ambulante Versorgung zu stärken.

Der Schuh in der Pflege, vor allem im häuslichen Umfeld, drücke schon
länger, erklärt der Sozialverband VdK. Die fünf Millionen Menschen,
die derzeit gepflegt würden, würden zum überwiegenden Teil von ihren

Familien oder Nachbarn gepflegt. Die politischen Reformen stellten
die Weichen in Richtung Heimförderung, was an dieser Realität völlig

vorbei gehe. Für pflegende Menschen fordere der VdK einen Pflegelohn.
Nur damit und mit einem Rechtsanspruch auf einen Tagespflegeplatz
könne der Anstieg in den kommenden Jahrzehnten bewältigt werden,
erklärte Verbandspräsidentin Verena Bentele.

Die Zahlen des Bundesamts müssten Bundesgesundheitsminister Karl
Lauterbach (SPD) eine Mahnung sein, die Leistungen der
Pflegeversicherung generationengerecht und zukunftssicher zu machen,
forderte Eugen Brysch von der Deutschen Stiftung Patientenschutz.
Lauterbach müsse unverzüglich gegensteuern, sonst würden immer mehr
Menschen an ihrem Lebensabend in die Armutsfalle rutschen.

Schon heute sei die pflegerische Versorgung vielerorts nicht
gesichert, erklärte der Bundesverband privater Anbieter sozialer
Dienste: «Es muss gewaltig etwas geschehen, damit Deutschland nicht
mit Hochgeschwindigkeit in eine pflegerische Unterversorgung
rauscht.»

Der Bundesgesundheitsminister arbeitet an einer Pflegereform. Es soll
wegen stark steigender Kosten für die Pflege Entlastungen für
Pflegebedürftige geben - aber auch höhere Beiträge. Der Pflegebeitrag

soll zum Sommer erhöht werden und zudem stärker danach unterscheiden,
ob man Kinder hat oder nicht.