Mehr Arzneimittelreste in der Umwelt - Daten zu Risiken Geheimsache Von Annett Stein, dpa

Arzneimittel sind inzwischen verbreitet in der Umwelt und immer
wieder auch im Trinkwasser nachweisbar. Daten zu Risiken gibt es -
nur sind sie oft nicht zugänglich, wie Experten bemängeln. Auf
EU-Ebene laufen nun Verhandlungen.

Berlin (dpa) - Arzneimittel sollen im Körper wirken. Doch je nach
Präparat werden bis zu 90 Prozent des enthaltenen Wirkstoffes
unverändert wieder ausgeschieden und gelangen ins Abwasser.
Kläranlagen fangen dem Umweltbundesamt (UBA) zufolge nur einen Teil
der Substanzen ab. In Gewässern seien Arzneimittel daher ebenso
nachzuweisen wie - in deutlich geringeren Mengen - im Trinkwasser.

Zwar müssen die Hersteller Studien zu Umweltverhalten und -toxizität
durchführen. Publik werden die Ergebnisse aber Experten zufolge kaum.
«Umweltbehörden und Öffentlichkeit kommen an die Daten oft nicht
heran», erklärt die Juristin und Umweltwissenschaftlerin Kim Teppe.
Effektiver Gewässerschutz sei in der Folge erheblich erschwert.
Anders als etwa bei Industriechemikalien müssen
Arzneimittel-Hersteller bisher nur bei den Zulassungsbehörden Daten
einreichen und können sich zudem auf umfangreiche Ausnahmen berufen,
so dass in der Praxis oft gar keine Daten vorgelegt werden, wie Teppe
erklärt.

Inzwischen dreht sich der Wind. Auf EU-Ebene laufen Verhandlungen für
neue Regelungen. Die Kommission hat angekündigt, in den kommenden
Tagen oder Wochen einen ersten Entwurf für das neue
Humanarzneimittelrecht vorzulegen. «Darin sind dann hoffentlich
Umweltbelange wie das Schließen von Datenlücken und die
Datentransparenz wenigstens ansatzweise schon adressiert», hofft
Teppe, die seit einigen Monaten für das Umweltbundesamt (UBA)
arbeitet. Für ihre juristische Doktorarbeit an der Hochschule für
Angewandte Wissenschaften Hamburg (HAW) und der Universität Hamburg
zur Problematik war sie 2022 mit dem Deutschen Studienpreis der
Körber-Stiftung ausgezeichnet worden.

Die Substanz Diclofenac - in Deutschland unter anderem Bestandteil
von Salben, die gegen Schmerzen wirken sollen - ist ein Beispiel
dafür, dass Arzneistoffe ebenso überraschende wie furchtbare Folgen
für Natur und Umwelt haben können: Als indische Landwirte in den
1990er-Jahren begannen, ihre Rinder mit Diclofenac zu behandeln,
begann ein Massensterben der Geier. Bestände schrumpften um 90
Prozent und mehr, einige Arten starben fast aus. Das Mittel
verursacht bei den Greifvögeln, die es beim Verzehr von Kadavern
aufnehmen, schon in kleinsten Mengen ein qualvolles, tödliches
Nierenversagen.

Allein in Deutschland werden pro Jahr etwa 80 Tonnen des Wirkstoffes
verbraucht. «Maximal sechs Prozent kommen am gewünschten Zielort im
Körper an», sagt Gerd Maack von der Fachgruppe zur Umweltbewertung
von Arzneimitteln des UBA. «Die Haut ist eine effektive Barriere, das
ist ja auch ihre Aufgabe.» Als Salbe aufgetragen gehe der Großteil
des enthaltenen Wirkstoffs beim Händewaschen, Duschen oder dem
Waschen der getragenen Kleidung ins Abwasser. In den Kläranlagen
werde nur ein Teil eliminiert.

Die Wasserrahmenrichtlinie der EU sieht inzwischen eine weitere
Reinigungsstufe vor, auch in Deutschland werden immer mehr 4.
Klärstufen eingebaut. Sie halten Spurenstoffe etwa durch sogenannte
Ozonierung oder Aktivkohlefiltration zurück. «Viele Wirkstoffe wie
Röntgenkontrastmittel rauschen aber auch da einfach so durch», sagt
Maack vom Uba. Diskutiert werden deshalb verschiedene weitere
Maßnahmen, etwa eine Umweltverträglichkeits-Ampel als Zusatzinfo für

Fachpersonal. «Wirkstoffe wie Diclofenac sollten nicht mehr
rezeptfrei abgegeben werden», nennt Maack eine weitere Möglichkeit.

Medizinisch notwendig seien die Diclofenac-Salben - mit Ausnahme
gegen Arthritis - oft nicht, ist Maack überzeugt. «Die Menschen
müssten sich viel stärker bewusst machen, was sie mit der Verwendung
in die Umwelt bringen.» Experten betonen schon seit Jahren, dass sich
die Mentalität in Gesundheitsfragen in Deutschland grundlegend ändern
müsse: Mehr Bereitschaft zu eigenem Handeln wie etwa zu einer
besseren Ernährungsweise und einem höheren Bewegungspensum sei nötig.

«Dass verbreitete Ansicht ist, ein Medikament oder eine Behandlung
müsse jede Erkrankung richten und man selbst müsse gar nichts tun,
ist Teil des Problems», sagt Maack.

Derzeit gelangen in Deutschland jährlich Tausende Tonnen biologisch
aktive Wirkstoffe aus Human- und Tiermedizin über Abwässer,
Klärschlamm und Gülle in die Umwelt. Mehr als 2000 verschiedene
Substanzen sind im Handel. Das Problem wird an Brisanz gewinnen: Die
Generation der Babyboomer erreicht das Rentenalter - und vor allem
Senioren nehmen viele Medikamente. Verglichen mit dem Jahr 2015 sei
bis 2045 mit einer bis zu 70-prozentigen Steigerung beim Einsatz
rezeptpflichtiger Arzneimittel zu rechnen, sagt UBA-Experte Maack.

Zudem summieren sich die Mengen vieler Substanzen in der Umwelt.
«Arzneimittel sind oft sehr stabil verglichen mit anderen
Chemikalien», erklärt Maack. Schließlich seien sie dafür geschaffen
,
unwirtliche Körpergefilde wie den Magen-Darm-Trakt und Passagen durch
Zellwände heil zu überstehen. In der Umwelt würden sie häufig nur
sehr schlecht abgebaut und behielten ihre biologische Wirksamkeit
lange Zeit.

Bei Neuentwicklungen werde von Pharmafirmen auf noch mehr Haltbarkeit
geachtet - zum Beispiel, damit Medikamente nur noch einmal statt
zweimal täglich genommen werden müssen, sagt Maack. Die
Umweltverträglichkeit werde bei der Entwicklung bisher gar nicht
beachtet. Vom Pharma-Unternehmensverband vfa heißt es dazu, dass es
nur begrenzt möglich sei, chemisch-synthetische Wirkstoffe von
vornherein gut biologisch abbaubar zu entwickeln.

Immer mehr, immer haltbarer: Was richtet das letztlich an? Konkrete
Folgen eindeutig nachzuweisen, ist schwer. Gesicherte Zusammenhänge
sind für den Menschen bisher nicht erfasst. Auch beobachtete
Phänomene in der Umwelt lassen sich nur selten ursächlich auf
einzelne Schadstoffe zurückführen, weil es insgesamt unzählige
Schadstoffe und Einflussfaktoren gibt, die typischerweise in einem
komplexen Netzwerk zusammenspielen, wie Maack erklärt. Hinzu kämen
chronische Effekte und Veränderungen des Erbgutes, denen noch
schwerer auf die Spur zu kommen sei.

Klar ist, dass die Substanzen über die Wasserentnahme aus Gewässern
und Grundwasser unvermeidbar auch ins Trinkwasser gelangen, ebenso in
Mineralwasser. «Das ist nicht unbedingt weniger belastet als Wasser
aus dem Hahn», sagt Maack. Zwar liegen die Konzentrationen meist weit
weg von den therapeutisch wirksamen. Die möglichen Langzeitfolgen für
den Menschen sowie potenzielle Wechselwirkungen seien aber völlig
unklar, gibt Maack zu bedenken. «Wir alle sind dafür die
Langzeit-Probanden.»