Kinderpsychiaterin: Gewalt unter Kindern vorbeugen

Der gewaltsame Tod der zwölfjährigen Luise hat viele Menschen in
Deutschland bewegt und geschockt. Was lässt sich gegen Gewalt unter
Kindern unternehmen?

Freudenberg/Berlin (dpa) - Der gewaltsame Tod der zwölfjährigen Luise
in Freudenberg ist für eine Kinderpsychiaterin der Berliner Charité
ein Anlass, um allgemein über Gewaltprävention an Schulen zu
sprechen. Es gebe grundsätzlich ein großes Problem von körperlicher
und emotionaler Gewalt an Schulen in Deutschland, auch in Form von
Mobbing, sagte Sibylle Winter, Leiterin der Kinderschutz- und
Traumaambulanz des Uniklinikums. «Das ist beunruhigend.»

Sie bezog sich dabei nicht konkret auf den Fall Luise. Die Ermittler
halten sich diesbezüglich mit Angaben zu den Hintergründen äußerst

bedeckt, weil die beiden mutmaßlichen Täterinnen erst 12 und 13 Jahre
alt und somit strafunmündig sind. Sie hatten gestanden, die
Zwölfjährige am 11. März in einem Wald an der Grenze von
Rheinland-Pfalz und Nordrhein-Westfalen erstochen zu haben.

An Schulen werde sehr viel Präventionsarbeit gebraucht - aber die
Frage sei natürlich, wie das geleistet werden könne, sagte Winter.
«Schulen sind seit 2020 auch verpflichtet, ein Schutzkonzept zu
entwickeln, bei dem Vorbeugung ein Bestandteil ist.» Wichtig sei,
dass Warnsignale von Erwachsenen erkannt würden. «Dass schwere
Gewalttaten unter Kindern oder Jugendlichen aus dem Nichts passieren,
ist schwer vorstellbar. Die Wahrscheinlichkeit ist viel größer, dass
es schon länger Schwierigkeiten gibt.»

Gerade in Fällen von Mobbing brauchten Opfer Unterstützung von außen,

wenn die Dynamik erst einmal eine gewisse Geschwindigkeit aufgenommen
habe, sagte Winter allgemein über das Phänomen. «Sonst gibt es für

das Kind kein Entrinnen mehr.» Die Kinderpsychiaterin sieht hier
insbesondere Lehrkräfte in der Pflicht, da Eltern Vorfälle in der
Schule oft nicht mitbekämen. «Mobbing sollte grundsätzlich ein Thema

im Unterricht sein. Es muss darüber gesprochen werden, dass nicht nur
der Mobber und das Opfer beteiligt sind. Sondern es gibt viele, viele
Zuschauer, die sehr wesentlich sind, weil sie das Geschehen sozusagen
bekräftigen.»

Um die Dynamiken beim Mobbing zu stoppen, gelte es, den Beobachtern
klar zu machen, dass auch sie eine Rolle hätten und Verantwortung
trügen. «Es muss auch klar gesagt werden, dass ein Opfer das Recht
hat, nein zu sagen und dass es richtig ist, sich Hilfe zu holen. Das
wird ja oft als Petzen oder Zeichen der Schwäche abgetan.» Letztlich
könne das auch dem Täter helfen: «Dem Täter geht es in der Regel ja

auch nicht gut. Mobbing kann eine Bewältigungsstrategie bei geringem
Selbstwert sein. Oder wenn man gelernt hat, dass Aggression zum Ziel
führt. Oder auch eine Form der psychischen Auffälligkeit.»

Winter plädiert unabhängig vom Fall Luise dafür, früher als bisher

mit fachlicher Unterstützung gegenzusteuern, wenn Kinder etwa mit
aggressivem Verhalten auffallen. «Aggressive Verhaltensweisen starten
früh und werden im Kindesalter häufig bagatellisiert. Bisher tun sich
alle sehr schwer damit, es beim Kinderpsychiater abklären zu lassen,
wenn sich zum Beispiel ein Kind in der Kita aggressiv verhält. Dabei
würden Eltern bei jeder anderen Erkrankung auch einen Arzt
aufsuchen.» Das Thema sei immer noch mit einem Stigma verbunden.

«Dabei muss man sich klarmachen: Bei psychischen Störungen liegt eine
Erkrankung eines Organs vor: des Gehirns. Wenn jemand impulsiv und
aggressiv ist, arbeiten bestimmte Bereiche im Gehirn nicht wirklich
gut zusammen», sagte Winter. Je früher ein betroffenes Kind Hilfe
bekomme, desto besser seien seine Chancen für die Zukunft.

Je nach Schwere und Häufigkeit von Vorfällen prüften Fachleute, woher

die Aggression kommt, ob Frustration im Spiel ist, ob das Kind in der
Schule überfordert ist, und ob womöglich das
Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom ADHS vorliegt. «ADHS geht mit
Impulsivität einher: Das heißt, man denkt nicht nach, man handelt
sofort.» Das könne bei Gewalttaten eine Rolle spielen.