Weltklimarat fordert drastische Klimaschutzschritte noch vor 2030

Deutliche Warnungen vor den Folgen zu lascher Klimaschutzmaßnahmen
gibt es genug. Jetzt haben Regierungen selbst ein Dokument
abgesegnet, das drastisches Handeln verlangt.

Interlaken (dpa) - Die Klimaschutzziele der Welt sind in akuter
Gefahr, wenn die klimaschädlichen Treibhausgase nicht noch in diesem
Jahrzehnt drastisch gesenkt werden. Davor hat der Weltklimarat (IPCC)
am Montag in seinem Synthesebericht gewarnt. Das Ziel, die
Erderwärmung auf 1,5 Grad über dem vorindustriellen Niveau
(1850-1900) zu begrenzen, ist nach dem Bericht praktisch unmöglich.
Die 1,5 Grad könnten sogar bereits in der ersten Hälfte der 2030er
Jahre überschritten werden. Die Erwärmung liegt schon bei rund 1,1
Grad.

«Die Klima-Zeitbombe tickt» sagte UN-Generalsekretär António
Guterres. «Aber der heutige IPCC-Bericht ist ein Leitfaden zur
Entschärfung der Klima-Zeitbombe. Er ist ein Überlebensleitfaden für

die Menschheit.» Guterres verlangte, dass Industrieländer das
Netto-Null-Ziel bei Emissionen möglichst schon bis 2040 statt 2050
erreichen. Gemeint ist, dass dann nicht mehr Treibhausgase
ausgestoßen werden als eingefangen werden können. Außenministerin
Annalena Baerbock sagte, der Bericht mache «mit brutaler Klarheit
deutlich, dass wir an dem Ast sägen, auf dem wir als Weltgemeinschaft
sitzen.»

Zur Erreichung des 1,5-Grad-Ziels müssten die weltweiten
CO2-Emissionen bis 2030 um 48 Prozent gegenüber 2019 sinken. Derzeit
steigen sie jedoch - nach einem kleinen Rückgang wegen der
Corona-Pandemie. Erstmals gibt der Weltklimarat auch eine
entsprechende Vorgabe für 2035: minus 65 Prozent gegenüber 2019. «D
as
Tempo und der Umfang der bisherigen Maßnahmen sowie die derzeitigen
Pläne sind unzureichend, um den Klimawandel zu bekämpfen», stellt der

Weltklimarat fest.

«Die Dringlichkeit, bis 2030 etwas zu tun, ist gestiegen», sagte
Mitautor Matthias Garschagen, Klimaforscher an der Münchner
Ludwig-Maximilians-Universität. Der Klimawandel schreitet schneller
voran und die Folgen sind stärker als zunächst gedacht, geht aus dem
Bericht hervor. Fast die Hälfte der Weltbevölkerung, bis zu 3,6
Milliarden Menschen, leben demnach in Regionen, die besonders starke
Folgen des Klimawandels erleben dürften.

Schon jetzt sind Folgen wie häufigere und stärkere Hitzewellen,
Überschwemmungen und Dürren deutlich, etwa die Hitze und
Überschwemmungen in Indien und Pakistan im 2022 und die anhaltende
Dürre südlich der Sahara. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO)
berichtete gerade, dass es in Somalia wegen der Dürre im vergangenen
Jahr bis zu 43 000 zusätzliche Todesfälle gegeben haben könnte.

Wenn die Regierungen ihre Anstrengungen zur Minderung der Emissionen
nicht deutlich ausbauen, steuere die Welt auf eine Erwärmung von 2,2
bis 3,5 Grad zu, sagte der Generalsekretär der Weltwetterorganisation
(WMO), Petteri Taalas. Um in der Nähe des 1,5-Grad-Ziels zu bleiben,
gebe es nur eins, sagte Mitautor Peter Thorne: «Der Rest dieses
Jahrzehnts wird entscheidend sein.»

Der Weltklimarat geht selbst in den beiden optimistischsten Szenarien
mit sehr deutlicher Emissionsminderung davon aus, das die Erwärmung
1,5 Grad vorübergehend überschreiten dürfte, und dies für mehrere
Jahrzehnte. Warum, ist klar: «Öffentliche und private Finanzströme
für fossile Brennstoffe sind immer noch größer als die für
Klimaanpassung und Klimaschutz», hieß es in dem Bericht.

Der Vorsitzende des Weltklimarats, Hoesung Lee, nannte den Bericht
dennoch eine «Botschaft der Hoffnung»: Denn das Wissen sei da, um den

Klimawandel nachhaltig zu begrenzen, ebenso die finanziellen Mittel.
Es müsse aber drei bis sechs Mal so viel investiert werden wie heute.


Das neue Dokument beruht auf sechs Berichten der vergangenen acht
Jahre, die Tausende Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern
erarbeitet haben. Es bringt ihre Erkenntnisse auf den Punkt und dient
als Handlungsgrundlage für Politiker. Der Weltklimarat (IPCC) ist ein
Gremium aus 195 Mitgliedsländern. Sie haben tagelang um jede
Formulierung gerungen und den Synthesebericht abgesegnet. Das ist
zwar mühsam, bedeutet aber, dass sie den Inhalt nicht mehr in Zweifel
ziehen. Darauf aufbauend wollen sie in diesem Jahr anschauen, wie
sich die bislang versprochenen Maßnahmen mit den Klimaschutzzielen
vereinbaren lassen (global stocktake). Der aktuelle Bericht zeigt:
Die Bilanz wird ernüchternd ausfallen.

Der Weltklimarat ruft in Erinnerung, dass die durchschnittliche
globale Oberflächentemperatur seit 1970 so stark gestiegen ist wie in
keiner anderen 50-Jahre-Periode seit mindestens 2000 Jahren. Er
stellt stärker als zuvor heraus, wer am meisten geschädigt wird:
«Verwundbare Gruppen, die in der Vergangenheit am wenigsten zum
aktuellen Klimawandel beigetragen haben, sind unverhältnismäßig stark

betroffen.»