Weltklimarat: Ohne drastische Schritte wird 1,5 Grad-Ziel verfehlt

Deutliche Warnungen vor den Folgen zu lascher Klimaschutzmaßnahmen
gibt es genug. Jetzt haben Regierungen selbst ein Dokument
abgesegnet, das drastisches Handeln verlangt.

Interlaken (dpa) - Ohne drastische Minderungen der klimaschädlichen
Treibhausgasemissionen noch in diesem Jahrzehnt wird das
1,5-Grad-Ziel der Erderwärmung bereits in den 2030er Jahren
überschritten. Das macht der Weltklimarat (IPCC) in seinem
Synthesebericht vom Montag so deutlich wie nie zuvor.

«Der Klimawandel ist eine Bedrohung für das menschliche Wohlbefinden
und die Gesundheit des Planeten», heißt es in dem in Interlaken
präsentierten Bericht. Die Erwärmung liegt bereits bei rund 1,1 Grad.
Fast die Hälfte der Weltbevölkerung, bis zu 3,6 Milliarden Menschen,
leben demnach in Regionen, die besonders starke Folgen des
Klimawandels erleben dürften.

Eigentlich wollten die Staaten einen höheren Anstieg als 1,5 Grad
möglichst verhindern, um noch schlimmere Auswirkungen der
Erderhitzung abzuwenden. Damit die Erderwärmung 1,5 Grad über dem
vorindustriellen Niveau (1850-1900) nicht oder nur vorübergehend
überschreitet, müssten die weltweiten CO2-Emissionen bis 2030
allerdings um 48 Prozent gegenüber 2019 sinken. Derzeit steigen sie
jedoch - nach einem kleinen Rückgang wegen der Corona-Pandemie geht
es wieder steil nach oben. Erstmals gibt der Weltklimarat auch eine
Vorgabe für 2035: minus 65 Prozent gegenüber 2019. «Das Tempo und d
er
Umfang der bisherigen Maßnahmen sowie die derzeitigen Pläne sind
unzureichend, um den Klimawandel zu bekämpfen», fasst er zusammen.

Die Dringlichkeit, bis 2030 etwas zu tun, ist gestiegen», sagte
Mitautor Matthias Garschagen, Klimaforscher an der Münchner
Ludwig-Maximilians-Universität. Der Klimawandel schreitet schneller
voran und die Folgen sind stärker als zunächst gedacht, geht aus dem
Bericht hervor. Schon jetzt sind Folgen wie häufigere und stärkere
Hitzewellen, Überschwemmungen und Dürren deutlich, etwa die Hitze und
Überschwemmungen in Indien und Pakistan im 2022 und die anhaltende
Dürre südlich der Sahara. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO)
berichtete gerade, dass es in Somalia wegen der Dürre im vergangenen
Jahr bis zu 43 000 zusätzliche Todesfälle gegeben haben könnte.

Der Weltklimarat geht selbst in den beiden optimistischsten Szenarien
mit sehr deutlicher Emissionsminderung davon aus, das die Erwärmung
1,5 Grad vorübergehend überschreiten dürfte, und dies für mehrere
Jahrzehnte. Warum, ist klar: «Öffentliche und private Finanzströme
für fossile Brennstoffe sind immer noch größer als die für
Klimaanpassung und Klimaschutz», hieß es in dem Bericht.

Das neue Dokument beruht auf acht Berichten, die Tausende
Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern seit gut acht Jahren
erarbeitet haben. Es bringt ihre Erkenntnisse auf den Punkt und dient
als Handlungsgrundlage für Politiker. Der Weltklimarat (IPCC) ist ein
Gremium aus 195 Mitgliedsländern. Sie haben tagelang um jede
Formulierung gerungen und den Synthesebericht abgesegnet. Das ist
zwar mühsam, bedeutet aber, dass sie den Inhalt nicht mehr in Zweifel
ziehen. Darauf aufbauend wollen sie in diesem Jahr anschauen, wie
sich die bislang versprochenen Maßnahmen mit den Klimaschutzzielen
vereinbaren lassen (global stocktake). Dieser Bericht zeigt: Die
Bilanz wird ernüchternd ausfallen.

Der Weltklimarat ruft in Erinnerung, dass die durchschnittliche
globale Oberflächentemperatur seit 1970 so stark gestiegen ist wie in
keiner anderen 50-Jahre-Periode seit mindestens 2000 Jahren. Er
stellt stärker als zuvor heraus, wer am meisten geschädigt wird:
«Verwundbare Gruppen, die in der Vergangenheit am wenigsten zum
aktuellen Klimawandel beigetragen haben, sind unverhältnismäßig stark

betroffen.»

Die Differenz zwischen den geschätzten Kosten der nötigen Anpassungen
und den eingeplanten finanziellen Mitteln wachse, so der
Weltklimarat. Er verweist darauf, dass reiche Länder ihr Versprechen
von 100 Milliarden Dollar im Jahr für die ärmsten Länder noch nicht
umgesetzt haben. Dabei sei global genügend Geld vorhanden, um die
klimaschädlichen Treibhausgase zügig zu reduzieren. Regierungen
müssten durch Förderung von Projekten und Studien, Subventionen und
Rahmenbedingungen für Investoren die richtigen Zeichen setzen. «Der
Ball liegt im Feld der Politik», sagte Mitautor Oliver Geden.