Verwundete in der Ukraine - Prothesen für ein Leben nach dem Krieg Von Andreas Stein, dpa

Durch den russischen Angriffskrieg hat die Ukraine nicht nur Tote zu
beklagen. Im Land stieg auch der Bedarf an Prothesen für Verwundete.
Die große Zahl an Patienten, aber auch Logistikprobleme machen den
Herstellern zu schaffen.

Kiew (dpa) - Im Prothesenzentrum von Olexander Stezenko im Kiewer
Stadtteil Podil herrscht Hochbetrieb. Mitarbeiter laufen mit
Gipsabdrücken und einzelnen Prothesenteilen durch die Werkstatt.
Schleifmaschinen brummen, es riecht nach Harz und Gips. «Wir haben
nicht gezählt, aber es ist wesentlich mehr Arbeit geworden», erklärt

Stezenko. Seit dem russischen Überfall vor etwas über einem Jahr
herrscht Krieg in der Ukraine und die Nachfrage nach Prothesen für
Amputierte ist immens gestiegen. Um wie viel, vermag keiner zu sagen.
Denn selbst die Zahl der Verwundeten wird in Kiew als Staatsgeheimnis
behandelt.

Im Betrieb wartet Anatolij Bassenko geduldig in einem Nebenraum auf
einer Liege sitzend. «Er hat schon eine Prothese, aber die müssen wir
neu machen, weil er zugenommen hat», erklärt Stezenko und bringt ihm
zur Probe einen angepassten neuen Prothesenschaft. Der 29-Jährige
läuft im Flur ein paar Runden und zeigt sich zufrieden. Anatolij
gehörte zu den ersten der Verteidiger des Stahlwerks Azovstal in
Mariupol, die Ende Juni 2022 aus der Gefangenschaft freikamen.

Mit Kriegsausbruch meldete er sich als Veteran freiwillig und wurde
nach Mariupol verlegt. Beim Rückzug ins Stahlwerk geriet seine Gruppe
unter Beschuss. «Es schlug eine Mörsergranate ein und riss mir das
Bein und einem Kameraden den Arm ab», berichtet der ausgebildete
Elektromonteur. Vier Soldaten blieben unverletzt und drei Soldaten
wurden getötet.

Von da an lag Anatolij bis zur Aufgabe der Garnison im Feldlazarett
in den Bunkern des Stahlwerks. Die Gefangenschaft verbrachte er in
einem Krankenhaus in Donezk. «Was kann ich dazu sagen? Ich lebe, habe
abgenommen», sagt er lachend. Anatolij musste lernen den
Amputationsstumpf abzubinden, damit dieser seine Form nicht verliert.
Seine Übungsprothese habe er nach der Freilassung Anfang August
erhalten. «Ich bekomme jetzt eine dauerhafte Prothese und bin in der
Reha», erzählt der Soldat.

Die Reha besteht dabei aus einer Vorbereitungsphase, der
Prothesenherstellung und -anpassung und dem anschließenden
Prothesentraining. Laut dem Chef des Arbeitgeberverbandes der
Orthopädiebranche, Ernest Skibinskyj, ist dieser Nachsorgeprozess
noch relativ neu für die Ukraine. In der Sowjetunion wurde dem kaum
Beachtung geschenkt. «Insgesamt arbeiten in unserer Branche etwa 100
Unternehmen, im Unternehmensverband sind 30 vereinigt», sagt
Skibinskyj. Diese beschäftigten über 2000 Mitarbeiter.

Mit Kriegsbeginn hatte die Orthopädiebranche wie auch andere Sektoren
der ukrainischen Wirtschaft vor allem Schwierigkeiten beim Import von
Einzelteilen. «Zu Beginn des Krieges war das ein Problem, da vor
allem die großen Logistikfirmen Angst hatten», führt der 59-Jährige

aus. Zurzeit stelle der Import von Materialien kein Problem dar.

Unternehmer Stezenko schildert das etwas anders. «Bei einigen Teilen,
besonders bei Armen, muss gerade sehr lang gewartet werden», sagt der
62-Jährige. Mitunter betrage die Wartezeit bis zu einem halben Jahr.
Da alles auf dem Landweg herantransportiert wird, braucht der
Transport länger als vor dem Krieg. Hauptursache sind die Risiken.
Die Hauptfrage sei: «Wer übernimmt die Verantwortung für die Fracht?
»
Es gebe keine Versicherung, die die Risiken für Frachttransporte in
die komplett als Kriegsgebiet geltende Ukraine übernehme.

Ob eine Prothese bereitgestellt werden kann, hängt dabei nicht nur
von den vorhandenen Materialien oder qualifizierten
Orthopädietechnikern ab. «Jeder Patient hat da seine eigene
Geschichte», erläutert Skibinskyj. Der körperliche Zustand des
Amputierten sei sehr wichtig. Mitunter seien auch Nachamputationen
nötig, da schnelle Notamputationen in Feldlazaretten ungeeignete
Stümpfe hinterlassen.

Stezenko erzählt, dass die Arbeit sich für ihn und seine 14
Mitarbeiter bereits seit dem Beginn des Krieges in der Ostukraine
2014 stark geändert habe. «Junge Menschen wurden verletzt. Man will
ihnen bestmöglich helfen», erläutert er seinen Anspruch. Der
Arbeitstag ist dabei geprägt von ständigen Anrufen und neuen
Anfragen, was auch psychologisch belastend sei. Doch dafür hat der in
Deutschland ausgebildete Meister für Orthopädietechnik Verständnis:
«Die Jungs wollen so schnell wie möglich eine Prothese haben.»

Und auch unternehmerisch ist die Situation eine Herausforderung, auch
wenn der ukrainische Staat und Wohltätigkeitsorganisationen die
Prothesen bezahlen. Teils wisse er nicht, woher er das Geld nehmen
soll, da zwischen dem Eintreffen der Einzelteile und dem Abschluss
der Anpassung der Prothese mit der beglichenen Rechnung oft Monate
vergehen. «Manchmal muss man Geld für die Anzahlung zurücklegen, da
einige Firmen eine Vorkasse verlangen», erläutert er.

Für die Orthopädiebranche wünscht sich Skibinskyj vor allem Hilfe bei

der Ausbildung von Orthopädietechnikern. «Wir haben gute, junge
Leute, die bereit sind zu lernen und die Englisch können», sagt er.
Jedoch sei die über ein Jahr dauernde Ausbildung in Deutschland zu
teuer. «Hilfe hierbei wäre wesentlich wichtiger als Finanzhilfen»,
hebt er hervor. «Das Wichtigste ist die Ausbildung von
Orthopädietechnikern!»

Nach seiner Zukunft gefragt, sagt Veteran Bassenko, dass er momentan
nicht so sehr darüber nachdenke. Viel Zeit nehmen die Reha und das
Abwickeln von Formalitäten wie der Austritt aus der Armee und die
Beantragung der Invalidenrente in Anspruch. «Mein Bruder hat mir
angeboten, in die USA zu ihm zu kommen», sagt der Ostukrainer. Dort
könne er selbst mit nur einem Bein Truckfahrer in Lkw mit
Automatikschaltung werden. Dabei helfe ihm der Umstand, dass er sein
linkes Bein verloren hat. «Mit dem rechten kann ich noch Gas geben»,
erklärt er grinsend. Darüber entscheiden werde er aber später, zuerst

muss er sich noch an das neue Leben mit der Beinprothese gewöhnen.