Umweltschutz in neuer Dimension: Riesiger Substanzgruppe droht Verbot Von Valentin Frimmer, dpa

In der EU könnte bald eine riesige Gruppe von Chemikalien verboten
sein. Es geht um den Schutz von Umwelt und Gesundheit. Die Industrie
hält wenig von dem Schritt. Streit ist vorprogrammiert.

Berlin (dpa) - Es ist ein bislang einmaliger Vorstoß: In der EU soll
eine Chemikaliengruppe mit geschätzt mehr als 10 000 einzelnen
Substanzen weitgehend verboten werden. Die Stoffe - abgekürzt PFAS
genannt - finden sich in Alltagsgegenständen wie Anoraks, Pfannen und
Kosmetik. Sie sind aber auch Teil von Industrieprozessen und
technischen Anwendungen. Das extrem breite Verbot wäre auch deshalb
besonders, weil nur für relativ wenige der Substanzen direkt
nachgewiesen ist, dass sie eine Gefahr darstellen. Wegen der enormen
Vielfalt an Verbindungen ist ein Großteil der Stoffe bislang noch
nicht untersucht. Es geht also um eine Art Vorsichtsmaßnahme.

Das grundlegende Verbot sei notwendig für den Schutz der menschlichen
Gesundheit und der Umwelt, wo sich die extrem langlebigen Chemikalien
immer weiter anreichern, sagen die Initiatoren. Die Industrie hält
den Schritt hingegen für unverhältnismäßig. Am 22. März starten d
azu
öffentliche, sechsmonatige Konsultationen, wie die
EU-Chemikalienagentur (ECHA) mitteilte. Die Entscheidung trifft am
Ende die Europäische Kommission gemeinsam mit den
EU-Mitgliedsstaaten.

Besondere Moleküle

Bei dem geplanten Verbot geht es um die Stoffgruppe der sogenannten
per- und polyfluorierten Alkylverbindungen (PFAS). Diese Chemikalien
kommen nicht natürlich in der Umwelt vor. PFAS werden auch als
Ewigkeitschemikalien bezeichnet. «Je nach Stoff überdauern sie
mehrere Jahrzehnte bis Jahrhunderte in der Umwelt», sagte Wiebke
Drost, PFAS-Expertin beim Umweltbundesamt (Uba), kürzlich der
Deutschen Presse-Agentur. Das Uba ist an dem Vorstoß beteiligt.

Begehrte Eigenschaften

Aufgrund ihrer einzigartigen Merkmale werden PFAS heute in einer
Vielzahl vor allem industrieller Produkte verwendet, wie der
Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) in einem Positionspapier
aus dem Jahr 2021 schreibt. Die Stoffe seien chemisch stabil, auch
große Hitze mache ihnen nichts aus. Zudem haben sie eine sehr
niedrige Oberflächenspannung und sind dadurch sowohl öl- als auch
wasserabweisend. Ferner gelten sie als sehr belastbar.

PFAS in der Umwelt

PFAS gelangen laut Uba beispielsweise durch die Abluft von
Industriebetrieben in Böden und Gewässer. Da die Substanzen auch in
Alltagsprodukten enthalten sind, treten sie laut Uba auch in der
Raumluft auf. Im vergangenen Jahr ergab eine Studie, dass PFAS selbst
in den entlegensten Weltregionen im Regenwasser nachweisbar sind.
«Mit der Aufnahme von PFAS aus verunreinigten Böden und Wasser in
Pflanzen und der Anreicherung in Fischen werden diese Stoffe auch in
die menschliche Nahrungskette aufgenommen», schreibt das Uba.

Die Gefahr

Einige PFAS sind bereits weitgehend verboten, weil sie als gefährlich
gelten. «Von den relativ wenigen gut untersuchten PFAS gelten die
meisten als mittel- bis hochtoxisch, vor allem für die Entwicklung
von Kindern», schreibt die Europäische Umweltagentur (EEA). Besonders
bekannt sind Perfluoroktansäure (PFOA) und Perfluoroktansulfonsäure
(PFOS). Studien ließen darauf schließen, dass PFOS? und ?PFOA? unter
anderem eine verringerte Antikörperantwort auf Impfungen bewirken
können, schreibt das Uba auf seiner Webseite. Zudem gebe es
«eindeutige Hinweise» auf einen Zusammenhang zu erhöhten
Serumspiegeln von Cholesterin. Laut EEA werden PFOA und PFOS auch mit
Leberschäden sowie Nieren- und Hodenkrebs in Verbindung gebracht.

Das Risiko

Von den allermeisten PFAS weiß man nicht, wie sie auf Mensch und
Umwelt wirken. Viele Fachleute gehen aber davon aus, dass zumindest
ein Teil negative Eigenschaften hat. «Es gibt Hinweise, dass auch
andere PFAS gefährlich sind», sagte Uba-Expertin Drost. Sie sieht den
Bedarf, schnell zu handeln. «Wenn wir darauf warten, bis die
Toxizität für jeden einzelnen Stoff nachgewiesen ist, kann es zu spät

sein.» Schließlich reicherten sich die PFAS in der Umwelt an und
seien dort nicht oder kaum mehr herauszubekommen.

Der Vorstoß

Ein Problem bislang: Wird eine einzelne Substanz verboten, kann die
Industrie sie durch einen ähnlichen, noch nicht regulierten Stoff
ersetzen. Dieser kann aber genauso gefährlich oder gar gefährlicher
sein als die ursprüngliche Substanz. Deshalb haben Behörden aus
Deutschland, den Niederlanden, Dänemark, Norwegen und Schweden
vorgeschlagen, die Herstellung, Verwendung und das Inverkehrbringen
von PFAS fast komplett zu verbieten. Der Vorschlag sieht je nach
Anwendung verschiedene Übergangsfristen von bis zu dreizehneinhalb
Jahren vor. Für einige wenige Bereiche gäbe es unbegrenzte Ausnahmen.

Kritik

Die Industrie sieht den Vorstoß sehr kritisch. «Ein umfassendes
Verbot der PFAS hätte erhebliche Auswirkungen auf die gesamte
Industrie und deren Innovationsfähigkeit», sagte Holger Lösch,
stellvertretender Hauptgeschäftsführer des BDI, der dpa. Viele
Branchen hätten in den vergangenen Jahren PFAS durch andere
Substanzen ersetzt. Das sei aber nicht in allen Bereichen möglich.
Insbesondere in Industrieanlagen und bei Technologien wie der
Herstellung von Brennstoffzellen, Halbleitern oder
Lithium-Ionen-Batterien sei man auch in Zukunft auf PFAS angewiesen.
Ein komplettes PFAS-Verbot ginge aus Löschs Sicht zu weit: «Weil dann
auch viele Anwendungen untersagt wären, von denen gar keine Gefahr
ausgeht und die in der Industrie dringend benötigt werden.»

Die Industrie sortiert sich noch

Was für Folgen könnte es geben? Derzeit werde in den Branchen noch
geprüft, welche Auswirkungen das angestrebte Verbot hätte, sagte
Lösch. Eine erste Bewertung zeige, dass viele PFAS-Verwendungen in
Europa nicht mehr möglich wären. Und auch bei Produkten und
Anwendungen, für die es Ausnahmen gibt, würde die Abhängigkeit von
Lieferketten außerhalb der EU zunehmen. Das gefährde den Erfolg der
zahlreichen Strategien, mit denen die Unternehmen ihre Abhängigkeit
von Absatz- und Beschaffungsmärkten verringern wollen.