Chefarzt: Lage in Kinder- und Jugendpsychiatrie wird sich verschärfen

Es ist ein Problem mit Ansage. Die angespannte Lage in den Kinder-
und Jugendpsychiatrien hat sich schon vor der Pandemie abgezeichnet,
Lockdown und Schulschließungen haben sie noch deutlich verstärkt.
Experten sehen die Politik in der Pflicht - und die Kassen.

Esslingen/Stuttgart (dpa/lsw) - Die bereits angespannte Lage in den
baden-württembergischen Kinder- und Jugendpsychiatrien wird sich nach
Ansicht des Esslinger Mediziners Gunter Joas weiter verschärfen. Nach
der Pandemie offenbarten sich die Folgen der langen Corona-Phase für
die Jüngeren, sagte der Chefarzt der Kinder- und Jugendpsychiatrie
Esslingen der Deutschen Presse-Agentur. Die Ausstattung mit
Therapieplätzen sei im Südwesten bereits vor Corona schlecht gewesen.
«Nun kommt hinzu, dass psychische Probleme nach einer
Ausnahmesituation wie Corona oft erst verzögert durchschlagen», sagte
Joas. «Ich gehe deshalb davon aus, dass der Höhepunkt bei den
psychischen Folgen für junge Menschen erst bevor steht.»

Gesundheitsminister Manne Lucha (Grüne) wird sich am Dienstag (11.00)
vor der nächsten Sitzung des Landeskrankenhausausschusses selbst ein
Bild in Esslingen machen. Joas Klinik mit derzeit 30 stationären und
11 tagesklinischen Plätzen sowie 5 Plätzen beim mobilen
Behandlungsteam ist seit ihrer Eröffnung im Sommer 2015 durchgehend
komplett ausgelastet. Die Warteliste ist ein Mehrfaches länger und es
dauert nach Angaben von Joas viele Monate, bis endlich ein Platz frei
wird.

Nach Angaben des Sozialministeriums gibt es derzeit im ganzen Land
insgesamt 764 Betten und 422 Plätze in der Kinder- und
Jugendpsychiatrie. Etwas mehr als zwei Dutzend Krankenhäuser im Land
bieten Behandlungen an.

«Die Not der Kinder ist derzeit groß», sagte der Chefarzt. «Ich bin

schon sehr lange im Geschäft, aber ich habe noch nie so viele
suizidale Kinder gesehen.» Nach der Pandemie seien die psychischen
Abwehrkräfte der Jüngeren aufgebraucht. «Diese Zeit war für Kinder

und Jugendliche wie ausgestanzt» sagte Joas. «Ganz so, als hätte es
sie gar nicht gegeben. Keine Tanzkurse, kein Ausflug ins
Schullandheim, kaum Begegnung.» Erwachsene unterschätzten diesen
Ausnahmezustand der jungen Menschen, der nicht selten in Ängsten,
Depressionen und Essstörungen mündet. «Mit jedem Tag ohne Behandlung

kann sich der Zustand verfestigen» warnte er.

Ziel müsse es sein, trotz des enormen Drucks «vor die Welle zu
kommen», sagte Joas. «Es geht nicht darum, kinder- und
jugendpsychiatrische Bettenburgen zu bauen. Wir müssen uns um
Betreuung, um Therapie und um schnell wirkende Alternativen zum
derzeitigen Angebot kümmern.»

Auch Eltern seien gefragt. «Sie kommen zu spät zu uns, auch, weil in
der Gesellschaft psychische Erkrankungen nach wie vor assoziiert
werden mit einer Schuld der Eltern», sagte Joas. «Irgendwie darf man
bei Eltern nur krank sein ab dem Hals abwärts.»

Joas ist Mitglied der Task Force zur psychischen Situation von
Kindern und Jugendlichen am Sozialministerium. Die Arbeitsgruppe hat
sich unter anderem für 120 zusätzliche stationäre Behandlungsplätze

in der Kinder- und Jugendpsychiatrie eingesetzt, das Angebot ist nach
Angaben des Sozialministeriums inzwischen auf 136 Plätze ausgebaut
worden.

Allerdings seien die Betten auf zwei Jahre begrenzt, kritisierte
Joas. «Das ist ja völlig irre», sagte er. «Finden Sie mal fertig
ausgebildetes Personal, das nur zwei Jahre bleibt, und jemanden, der
für eine solche befristet geöffnete Station zahlt.» Die Kapazitäten

müssten langfristig ausgeweitet werden.