Außerklinische Intensivpflege: Betroffene bangen um Selbstbestimmung

Anna-Lena Ditschar aus Kassel leidet an einer Spinalen Muskelatrophie
und muss künstlich beatmet werden. Dennoch will sie ein
selbstbestimmtes Leben führen. Das sieht die 20-Jährige aufgrund
eines neuen Gesetzes zur Intensivpflege allerdings bedroht.

Kassel/Freiburg/Berlin (dpa/lhe) - Anna-Lena Ditschar ist Fan der
Toten Hosen, besucht Konzerte, streamt gerne Serien und trifft sich
abends mit Freunden. Die 20-Jährige lebt ein selbstbestimmtes Leben
in ihren eigenen vier Wänden, während sie rund um die Uhr auf Hilfe
angewiesen ist. Die junge Frau leidet an einer Spinalen
Muskelatrophie, einer Erkrankung bestimmter Nervenzellen im
Rückenmark, die sich durch fortschreitenden Muskelschwund und
motorischen Funktionsverlust zeigt.

Anna-Lena sitzt im Rollstuhl. Sie muss künstlich beatmet werden, seit
sie elf Monate alt ist. Ihre Mutter Bettina Ditschar kümmert sich mit
Unterstützung eines Pflegedienstes Tag und Nacht zu Hause um sie.
Dabei muss sie immer häufiger einspringen, weil es an qualifizierten
Pflegekräften mangelt. Die Lehrerin hat ihrer Tochter, die vormittags
in einer Werkstatt für behinderte Menschen arbeitet, die größere
Wohnung in einem Mehrfamilienhaus in Kassel überlassen. Sie selbst
lebt in einem kleineren Appartement im Stockwerk darüber. «Anna-Lena
hat, wie andere junge Erwachsene auch, den Wunsch, alleine und
eigenständig zu leben», sagt die 47-Jährige.

Diesen Wunsch sehen Mutter und Tochter allerdings bedroht. Sie haben
Angst, dass Anna-Lena auf Grundlage des neuen «Intensivpflege- und
Rehabilitationsstärkungsgesetzes» (IPReG) künftig nicht mehr zu Hause

gepflegt werden darf, sondern in einer Pflegeeinrichtung leben muss.
Das Gesetz wurde im Oktober 2020 mit einer Übergangsfrist von drei
Jahren beschlossen. Es sieht vor, dass der Anspruch auf häusliche
Intensivpflege für Beatmungspatienten nur noch an den Orten besteht,
an denen die medizinische und pflegerische Versorgung tatsächlich und
dauerhaft sichergestellt werden kann. Ob die Bedingungen vorliegen,
soll die Krankenkasse entscheiden. Vor Ort soll das mindestens einmal
im Jahr durch den medizinischen Dienst (MD) geprüft werden.

Ziel der Neuregelungen ist es laut Bundesgesundheitsministerium, die
Versorgung der Patientinnen und Patienten mit außerklinischem
Intensivpflegebedarf zu verbessern und Fehlanreize zu vermeiden.
Hintergrund sind jahrelange milliardenschwere Betrügereien von
Pflegedienstleistern. Sie hatten unter anderem Beatmungszeiträume
unnötig in die Länge gezogen und Begutachtungen durch die Kassen
gezielt manipuliert. Razzien in mehreren Bundesländern hatten den
organisierten Betrug 2019 aufgedeckt.

Im Januar ist die neue Richtlinie über die Verordnung von
außerklinischer Intensivpflege (AKI) in Kraft getreten. Sie sieht
vor, dass künftig vor jeder ärztlichen Verordnung der pflegerischen
Leistungen die ergänzende Untersuchung durch einen besonders
qualifizierten Facharzt vorgeschrieben ist, um zu bestätigen, dass
die anspruchsvolle medizinische Versorgung weiterhin erforderlich
ist. Er soll unter anderem die Möglichkeit prüfen, die Beatmungszeit
des Patienten zu verringern oder auf eine nicht invasive Beatmung
umzustellen. Diese sogenannte Potenzialanalyse hat zum Ziel, die
Beatmungszeit gegebenenfalls bis hin zur Entwöhnung zu reduzieren.

Aufgrund einer Übergangsregelung können die niedergelassenen
Ärztinnen und Ärzte die außerklinische Intensivpflege zunächst
weiterhin wie gewohnt verordnen - allerdings befristet bis zum 30.
Oktober. Danach müssen alle Verordnungen nach den neuen Regelungen
erfolgen. «Die entsprechenden medizinischen Kapazitäten sind aber
nicht vorhanden», sagt Markus Behrendt, selbst Vater eines beatmeten
jungen Erwachsenen und Vorsitzender des Elternselbsthilfe-Vereins
IntensivLeben in Kassel. Es gebe schlichtweg nicht genug dieser
Fachärzte. Dass die ambulanten Versorgungsstrukturen bis zum Oktober
in allen Regionen rechtzeitig zur Verfügung stehen, hält er für
ausgeschlossen und fordert, die Übergangsfrist so lange zu verlängern
bis flächendeckend ausreichend qualifizierte Mediziner vorhanden
sind.

Beteiligte Fachärzte teilen seine Sorge. «Das Hauptproblem sind die
nicht verfügbaren medizinischen Strukturen, die dieses Gesetz
voraussetzt», sagt Lennart Gunst, Funktionsoberarzt und
Kinderpneumologe am Universitätsklinikum Freiburg und Sprecher der
Sektion Kinder und junge Menschen bei der Deutschen
Interdisziplinären Gesellschaft für Außerklinische Beatmung (DIGAB).

Die meisten Kinder und jungen Menschen mit außerklinischer Beatmung
würden aktuell in größeren Kinderkliniken von spezialisierten Ärzte
n
versorgt. «Das sind relativ wenige auf Deutschland verteilt. Es gibt
da sehr viele Lücken.»

Das Bundesgesundheitsministerium erklärt, im Koalitionsvertrag
zwischen SPD, FDP und Grünen sei vorgesehen, dass bei der
intensivpflegerischen Versorgung die freie Wahl des Wohnorts erhalten
bleiben müsse. «Das Intensivpflege- und
Rehabilitationsstärkungsgesetz soll darauf hin evaluiert und
nötigenfalls nachgesteuert werden.»

Der Gemeinsame Bundesausschuss habe zwischenzeitlich mit der
Übergangsfrist bis zum Oktober bereits selbständig auf zum Teil
geäußerte Sorgen bezüglich der konkreten Umsetzungsmöglichkeiten de
r
AKI-Richtlinie reagiert. Darüber hinaus habe er ein erneutes
Beratungsverfahren zu den Anforderungen an potenzialerhebende Ärzte
eingeleitet. Damit werde «der zum Teil geäußerten Sorge Rechnung
getragen, es könnten nicht genügend Ärzte zur Verfügung stehen»,
die
die bisher in der Richtlinie geregelten Qualifikationsanforderungen
erfüllten.

Anna-Lena äußert ihren Wunsch per Sprachcomputer, den sie mit den
Augen steuert: Sie will weiter zu Hause leben, in ihrer eigenen
Wohnung. Die 20-Jährige hofft, dass dabei alle an einem Strang
ziehen.