Überfüllter Maßregelvollzug - Warum immer wieder Täter freikommen Von Marion van der Kraats, dpa

Ein Clan-Mitglied wird in Berlin wegen Platzmangels vorzeitig aus der
Haft entlassen. Das hat zuletzt bundesweit für Schlagzeilen gesorgt.
Der Fall rückt ein spezielles Problem der Justiz in den Fokus.

Berlin (dpa) - Länder und Einrichtungen schlagen Alarm und bezeichnen
die Situation als angespannt. Nahezu in allen Bundesländern ist der
sogenannte Maßregelvollzug - auf die Behandlung suchtkranker
Straftäter spezialisierte Fachkliniken - überbelegt, wie eine Umfrage
der Deutschen Presse-Agentur ergab. Weil ihre Taten im Zusammenhang
mit Drogen- oder Alkoholmissbrauch stehen, kommen zunehmend viele
Straftäter in eine solche Entziehungsanstalt. «Die Zuweisungszahlen
sind in den letzten Jahren deutlich angestiegen», sagt Psychologe
Merten Neumann vom Kriminologischen Forschungsinstitut Niedersachsen.
In den Kliniken führt das zu Platzmangel - und immer wieder kommen
Straftäter auf freien Fuß.

In Baden-Württemberg war das 2022 laut Sozialministerium 34 Mal der
Fall, im Jahr zuvor 35 Mal. In Niedersachsen ist es im vorigen Jahr
nach Ministeriumsangaben zweimal dazu gekommen. Weitere Fälle drohen
in diesem Jahr: 22 verurteilte Straftäter sind in sogenannter
Organisationshaft, in der Betroffene auf einen Behandlungsplatz im
Maßregelvollzug warten. Die darf aber nur eine gewisse Zeit andauern.

Das führte in Berlin zu einem Fall, der im Februar bundesweit
Schlagzeilen machte: Ein Clan-Mitglied, das 2021 wegen besonders
schweren Raubes und gefährlicher Körperverletzung zu sieben Jahren
Haft verurteilt worden war, kam auf freien Fuß. Kurz danach musste
die Berliner Staatsanwaltschaft erneut wegen Platzmangels einen
Straftäter entlassen. In 16 weiteren Fällen droht dies ebenfalls.

Lage in den Ländern

In Rheinland-Pfalz warten derzeit etwa 70 Menschen auf eine Aufnahme
in den Maßregelvollzug, wie das Gesundheitsministerium auf Anfrage
mitteilte. In Hamburg waren laut Sozialbehörde 58 Straftäter zwischen
Anfang 2022 und Ende Februar 2023 im Untersuchungsgefängnis, obwohl
sie eigentlich in einer Klinik behandelt werden sollten.

Mehr als 300 Straftäter landeten in Nordrhein-Westfalen (NRW) laut
Justizministerium 2022 auf einer Warteliste. Bei ihnen habe es sich
um minderschwere Fälle gehandelt, in der Regel um Drogenabhängige,
die im Maßregelvollzug ihren Entzug absolvieren sollen. Täter, die
als gefährlich eingestuft wurden oder in Untersuchungshaft waren,
kamen laut NRW-Ministerium nicht wegen Platzmangels auf freien Fuß.

Auch in Baden-Württemberg hieß es vom Sozialministerium, im Fall
schwerer Gewalttaten bekämen verurteilte Straftäter unter «Umgehung
der Warteliste» kurzfristig einen Platz im Maßregelvollzug
zugewiesen. Das versuche man auch in Berlin, betonte die
Senatsgesundheitsverwaltung. Doch die Situation ist seit Jahren
angespannt - und im Februar gelang es gleich zweimal nicht.

Laut Gesundheitsverwaltung ist die Einrichtung mit rund 600
(Stand: 10. März) Patientinnen und Patienten «deutlich überbelegt
».
Genehmigt sind nur 541 Betten. Die Ärztekammer Berlin spricht von
«unhaltbaren Zuständen». Bereits 2020 sahen Mitarbeiterinnen und
Mitarbeiter des Krankenhauses des Maßregelvollzugs (KMV) eine
«dauerhafte Überbelegung» und einen «akuten Personalmangel» als
Ursache für eine zunehmende Zahl von Gewalttaten in der Klinik. Ende
2022 wandten sie sich erneut mit einem Brandbrief an
Gesundheitssenatorin Ulrike Gote (Grüne).

Warum so viele Täter im Maßregelvollzug landen

Als einen Grund für die bundesweit angespannte Situation sehen
Experten die derzeitige Gesetzeslage, die von Verteidigern ausgenutzt
werden könne. Im Fokus steht der Paragraf 64 des Strafgesetzbuches.
«Es gibt eine Reihe von Anwälten, die den §64 als gute und
erfolgreiche Verteidigungsstrategie sehen», sagt Sven Reiners,
Ärztlicher Leiter des Berliner Maßregelvollzugs. «Vor 20 Jahren
hatten wir es mit schwerkranken Alkoholikern zu tun, die nach §64
eingewiesen wurden, heute geht es überwiegend um Drogenmissbrauch -
etwa Kokain.»

Die Kliniken beklagen zunehmend, dass aufgrund von Gerichtsurteilen
bei ihnen Straftäter landen, die dort nicht richtig aufgehoben seien.
«Wir stellen die Einweisungsindikation in Frage. «Der Begriff «Hang
zur Sucht» muss präzisiert werden», fordert Reiners.

Hintergrund: In den Maßregelvollzug kommen Straftäter, wenn ein
Gericht sie als psychiatrisch auffällig oder suchtkrank einstuft. Bei
längeren Freiheitsstrafen kann die Haft aufgeteilt werden: Zunächst
wird ein Teil im Gefängnis abgesessen, dann folgt die Maßregel. Dort
wird entschieden, ob der Verurteilte die Reststrafe weiter absitzen
muss - oder schon nach der Hälfte der Strafe auf freien Fuß kommt. Im
regulären Strafvollzug ist eine Entlassung auf Bewährung nach der
Hälfte der Haft hingegen selten. Außerdem gibt es im Maßregelvollzug

mehr Lockerungsmöglichkeiten und es herrscht «eher
Krankenhausatmosphäre», wie Reiners schildert.

Die Kliniken verzeichnen seit Jahren einen Anstieg von Straftätern.
Es gebe mehr Patienten mit Psychosen, nannte Hans-Henning Flechtner,
Vorsitzender des Psychiatrieausschusses von Sachsen-Anhalt, im
Oktober 2022 einen Grund für die angespannte Situation. Wie aus dem
Bericht einer Bund-Länder-Arbeitsgruppe hervorgeht, waren 2020 etwa
5280 Menschen im Maßregelvollzug, 1995 waren es noch rund 1370.

Wie die Lage entschärft werden soll

Die Länder versuchen, neue Plätze zu schaffen. Berlin will
mittelfristig etwa 60 Plätze zu den derzeit 541 genehmigten Betten
schaffen. In Sachsen-Anhalt sollen Neubauten an den beiden Standorten
in Bernburg und Uchtspringe im Herbst 2023 und Anfang 2024 fertig
sein. In NRW sollen bis 2026 nach derzeitiger Planung etwa 750 Plätze
zusätzlich zu den derzeit rund 2360 stationären Betten entstehen. In
Niedersachsen soll es noch in diesem Jahr rund 50 neue Plätze geben,
insgesamt seien 200 geplant.

Baden-Württemberg will mit einer neuen Klinik in Schwäbisch Hall bis
Ende 2024 oder Anfang 2025 das Platzproblem lösen. Bis dahin soll
nach dem Willen von Sozialminister Manne Lucha die Umwandlung des
Heidelberger Ex-Gefängnisses «Fauler Pelz» eine Übergangslösung s
ein.
Doch dieser Plan trifft auf erbitterten Widerstand in der Stadt.

Experten und Länder drängen darauf, die Änderung des Paragrafen 64
voranzubringen. Angesichts der Situation müsse man schauen, «wo kann
ich Stellschrauben anziehen», meint Neumann vom Kriminologischen
Forschungsinstitut. Die vorliegenden Reformvorschläge seien «ein
Schritt in die richtige Richtung».

Im Fall des Berliner Clan-Mitglieds gibt es inzwischen einen Platz -
der Mann ist laut Behörden pünktlich angetreten, um seine Strafe
weiter zu verbüßen.