Nach Corona ist vor der Therapie - immer mehr psychische Erkrankungen Von Martin Oversohl, dpa

Ängste, Überlastung, Depressionen: Psychische Erkrankungen haben im
Südwesten enorm stark zugenommen. Die Krankenkasse DAK fordert,
besonders auf junge Menschen zu achten.

Stuttgart (dpa/lsw) - Die Pandemie ist vorbei, die Schutzmasken sind
in der Schublade verstaut und getestet wird auch viel weniger.
Dennoch offenbaren sich auch noch nach Monaten die Spuren der langen
Corona-Phase. So haben Arbeitnehmer in Baden-Württemberg der
Krankenkasse DAK Gesundheit zufolge im vergangenen Jahr so oft wie
nie zuvor wegen Depressionen oder Ängsten am Arbeitsplatz gefehlt.
Auf 100 Versicherte fielen 248 Fehltage, das sind 48 Prozent mehr als
vor zehn Jahren, wie die Kasse aus ihrem neuen Psychreport für den
Südwesten zitiert. Im Jahr 2021 waren es noch 208 Fehltage.

Warum dieser Höchststand, obwohl das Schlimmste überstanden zu sein
scheint? Bei der Spurensuche landen die Experten immer wieder bei der
Corona-Pandemie. «Psychische Erkrankungen entwickeln sich eher
langsam», sagte Dietrich Munz, Präsident der
Landespsychotherapeutenkammer. «Wir haben deshalb damit gerechnet,
dass sie sich nach dem Rückgang der Corona-Zahlen weiter bemerkbar
machen.» Allerdings seien psychische Erkrankungen auch weniger ein
Tabu-Thema als früher. «Es wird weniger stigmatisiert und es wird
offener darüber gesprochen und es wird auch häufiger diagnostiziert,
weil Betroffene frühzeitiger zum Arzt gehen.»

Teilweise wird eine Belastung über ein bis zwei Jahre getragen, bevor
sie sich Bahn bricht, sagt auch Gabriele Glocker vom Landesverband
der Angehörigen psychisch erkrankter Menschen. «Viele Menschen,
Kranke und auch ihr Umfeld, stecken einen enormen Druck für kurze
Zeit weg, aber das ist nicht von Dauer», erklärt sie. Aber nach
Corona kam der Krieg in der Ukraine hinzu, die Energiedebatte und die
Preiskrise. «Einzeln genommen mag das überschaubar sein, aber es
addiert sich und wirkt sich aus», sagt Glocker. Und stets sei nicht
nur ein Erkrankter oder eine Kranke betroffen, es gehe auch um
Freunde, Partner und Eltern.

Laut DAK-Report ist vor allem die Belastung bei jungen Frauen im
Alter zwischen 15 und 19 Jahren im vergangenen Jahr deutlich
gestiegen, bei den Männern dagegen die Altersgruppe der 35- bis
39-Jährigen. Unter Druck stand auch im vergangenen Jahr weiter das
Gesundheitswesen. Die Zahlen dieser Branche lagen nach DAK-Angaben 43
Prozent über dem Durchschnitt der Ausfälle.

Psychische Erkrankungen sind zudem oft langwierig. Im Durchschnitt
waren die Betroffenen im vergangenen Jahr 36,9 Tage lang
krankgeschrieben, mehr als jeder vierte davon bis zu drei Tage, jeder
siebte länger als 42 Tage. Vor allem handelt es sich laut Report um
Depressionen, die auf einem Rekordhoch liegen, sowie um Belastungs-
und Anpassungsstörungen. Den stärksten Anstieg mit 39 Prozent Zuwachs
gegenüber 2021 hatten Angststörungen.

«Wir sehen eine hohe Zahl an Erschöpfungsdepressionen und an
Entlastungsdepressionen, wenn es zuvor eine Anfälligkeit dafür gab»,

sagt Martin Bürgy, Psychiater und Leiter des Zentrums für Seelische
Gesundheit am Klinikum Stuttgart. «Wenn nach der Pandemie eigentlich
Entlastung möglich wäre, wird deutlich, wie belastet man eigentlich
ist.» Es handele sich in der Statistik allerdings auch nicht
ausschließlich um Neuerkrankungen. Vielmehr seien es oft
Vorerkrankungen, die durch äußere Umstände wie die Pandemie und die
fortgesetzte Belastung verstärkt würden. Die Zahl der psychischen
Erkrankungen steige zudem seit vielen Jahren. «Corona hat da wie ein
Brennglas gewirkt», sagt Bürgy.

Das Problem: Wie in etlichen anderen Branchen auch fehlt es an
fachlich ausgebildetem Nachwuchs. Die Zahl der Fälle steigt, die Zahl
der Hilfen und Experten nicht. Die DAK fordert nicht nur deshalb,
bereits deutlich früher einzugreifen und zu helfen. «Der neue
Höchststand bei den psychischen Erkrankungen im Südwesten ist ein
Alarmsignal für uns alle», sagte Siegfried Euerle, der Landeschef der
DAK-Gesundheit in Baden-Württemberg. «Hinzu kommt, dass zunehmend
auch jüngere Männer in der Mitte ihres Arbeitslebens wegen dieser
Erkrankungen ausfallen.» Den Fragen der seelischen Gesundheit müsse
am Arbeitsplatz mehr Beachtung geschenkt werden, forderte er.
«Beschäftigte dürfen nicht Gefahr laufen, eines Tages verfrüht
ausgebrannt zu sein und aussteigen zu müssen.»

Für den Psychreport hat das Berliner IGES Institut die Daten von 275
000 DAK-versicherten Beschäftigten in Baden-Württemberg ausgewertet.
Die DAK-Gesundheit ist nach eigenen Angaben die drittgrößte
gesetzliche Krankenkasse Deutschlands mit rund 630 000 Versicherten
im Südwesten.