Ärztin mit Tourette-Syndrom: Im Alltag trotz «Hitler» und «Hurensoh n» Von Rolf Schraa, dpa

Stella Lingen ist angehende Ärztin an einer Essener Klinik. Die junge
Frau hat das Tourette-Syndrom. Manchmal verdreht sie unkontrolliert
den Kopf oder stößt ungewollt Schimpfwörter aus. Ihrer Arbeit tut das

keinen Abbruch - und ihrem Humor auch nicht.

Essen (dpa/lnw) - Wenn die angehende Ärztin Stella Lingen
unterbrochen oder überraschend angesprochen wird, reagiert sie schon
mal spontan mit «Halt die Fresse». Aus heiterem Himmel verdreht sie
die Augen und schimpft «Hurensohn», ruft «Hitler» oder «Ich habe

Corona» - all das ohne Absicht und ohne dass sie es steuern kann.

Lingen will niemanden beleidigen und ist auch nicht Corona-positiv.
Die 25-Jährige hat die unheilbare neuro-psychiatrische Erkrankung
Tourette, ihre Ausrufe sind Tics, Ausdruck ihrer Krankheit. Seit
ihrem 21. Lebensjahr steht die Diagnose fest. Ihr Medizinstudium hat
sie trotzdem fortgesetzt. Ende dieses Jahres will sie Examen machen,
später promovieren und irgendwann eine Praxis als
Allgemeinmedizinerin eröffnen.

Aktuell arbeitet die Essenerin in der Notfall-Ambulanz des Essener
Huyssenstifts, ihre nächste Station ist eine Kinder- und
Jugendpsychiatrie. Bei der Arbeit störten die Tics kaum, sagt die
junge Frau im weißen Kittel. «In Gesprächen mit Patienten bin ich
konzentriert, da tauchen sie kaum auf.» Meist schaffe sie es dann
auch, Tics zu unterdrücken. «Ich kann fast alles machen, auch
motorisch, wie etwa Zugänge legen», sagt sie. Sie fährt auch Auto -
als sie während des Medizinstudiums im Rettungsdienst gearbeitet hat,
steuerte sie sogar den Rettungswagen.

«Stella Lingen ist die erste angehende Medizinerin mit
Tourette-Syndrom, die ihr Praktisches Jahr bei uns absolviert», sagt
ihr Chef Dr. Andreas Grundmeier, Direktor der Klinik für
Notfallmedizin & Internistische Intensivmedizin an den Evangelischen
Kliniken Essen-Mitte (KEM). «Wir waren natürlich gespannt, hatten
aber nach den ersten Gesprächen keinerlei Bedenken und wurden im
Alltag bestätigt», sagt er. Sie sei offen, freundlich und in
Behandlungssituationen immer äußerst fokussiert. «Und manchmal
entspannt sich in der Notaufnahme durch den Austausch über ihre
überraschenden Tics auch eine angespannte Patienten-Situation», sagt
der Klinikdirektor.

Tourette-Erkrankungen treten meist schon in der Kindheit auf, bei
Lingen zeigte sich die Erkrankung aber erst im jungen
Erwachsenenalter zunächst mit leichtem Zusammenzucken, wie es viele
Menschen beim Einschlafen erleben. Später kamen stärkere
Armbewegungen und dann auch verbale Tics dazu, erst Räuspern und
Pfeifen, später auch unkontrolliert ausgestoßene Wörter. Eineinhalb
Jahre habe es bis zur Diagnose gedauert - eine Zeit der persönlichen
Unsicherheit etwa auch mit der Frage, ob sie weiter Medizin studieren
könne, erzählt sie.

Inzwischen hat sie sich mit der Krankheit arrangiert, ihr
Selbstbewusstsein ist gewachsen. Sie hat ihrer Krankheit einen Namen
gegeben: Steve. Medizinische Kollegen informiert sie von sich aus,
wenn sie neu in eine Abteilung kommt. Patienten sage sie es erst mal
nicht, wenn die Situation es nicht erfordere. Auch lange Schichten
mit Schlafmangel seien kein Problem, sagt sie. «Schlafmangel ist
sogar positiv. Das verringert die Tics.»

Prinzipiell spreche nichts gegen einen fordernden Job für Menschen
mit Tourette-Syndrom, sagt Privatdozent Dr. Daniel Huys, Facharzt für
Psychiatrie und Psychotherapie und Chefarzt der Allgemeinpsychiatrie
an der LVR-Klinik Bonn, der seit Jahren Spezial-Sprechstunden für
Menschen mit Tic-Erkrankungen anbietet. «Wir sehen hier einige
Erkrankte, die in Führungspositionen arbeiten: etwa als
Unternehmensberater, Hotelmanager oder Schiffskapitän.»

Entscheidend sei, wie stark beeinträchtigend und belastend die
Betroffenen ihre Krankheit selbst wahrnähmen. Und eine erfüllende
Tätigkeit wie der Arztberuf gebe den Menschen ja auch viel Positives
zurück; seine strukturierende Wirkung habe zudem nachweislich
positive Auswirkungen auf die psychische Gesundheit.

Der Druck der Krankheit ist natürlich trotzdem da - schon durch die
Anstrengung, Tics zu unterdrücken und gelegentlich eben doch durch
Konflikte mit der Umgebung. Einmal habe sie im Bus Streit bekommen
mit einer älteren Frau, weil sie mehrfach «Hitler» gerufen habe,
erzählt Lingen. Als die Frau sie verbal attackierte, habe Lingen die
Mitreisende rassistisch beschimpft - ohne es zu meinen und ohne etwas
dagegen tun zu können.

«Das war nicht meine Absicht, Hitler ist nicht meine Gedankenwelt»,
sagt sie. Das verstehen aber Außenstehende manchmal nicht. Lingen
will deshalb mit ihrem medizinischen Fachwissen aufklären über die
Krankheit - und das nicht immer bierernst.

Die Ärztin hat für den bekannten Youtube-Kanal «Gewitter im Kopf -
Leben mit Tourette» von Jan Niklas Zimmermann und Tim Lehmann an
mehreren Beiträgen mitgewirkt, in denen manchmal auch kräftig gelacht
wird. Seit einiger Zeit hat sie auch ihren eigenen Youtube-Kanal mit
bereits mehr als 17 000 Abonnenten. «Stella - Die Lizenz zum
Fluchen», hat sie ihn genannt.