DFB-Arzt Tim Meyer: «Corona war die belastendste Zeit» KLaus Bergmann, dpa

Tim Meyer hört nach 21 Jahren als Nationalmannschaftsarzt auf. Der
55-Jährige erlebte in Katar sein sechstes WM-Turnier. Er hat viel
erlebt mit vier Bundestrainern - und am Ende eine Pandemie.

Saarbrücken (dpa) - Hansi Flick muss sich einen neuen Arzt suchen -
zumindest bei der Fußball-Nationalmannschaft. Denn Tim Meyer beendet
nach der WM in Katar seine Tätigkeit als Teamarzt nach 21 Jahren. Der
Entschluss stand für den 55-Jährigen schon vor dem Turnier fest, wie
Meyer im Interview der Deutschen Presse-Agentur zu seinen
Beweggründen, seinen vielfältigen Turniererlebnissen und der
Zusammenarbeit mit insgesamt vier Bundestrainern inklusive Flick
erzählt.

Frage: Nach mehr als zwei Jahrzehnten hören Sie als Arzt der
Fußball-Nationalmannschaft auf. Was sind Ihre Beweggründe?

Antwort: Eigentlich sind es die 21 Jahre. Irgendwann kommt man in ein
Alter, in dem man sich vorstellen kann, andere Sachen zu machen als
an den Spielfeldrand zu sprinten und Fußballern die Wasserflasche zu
reichen. Nach sechs Weltmeisterschaften habe ich auch schon sehr viel
gesehen. Da stellt sich einem zwangsläufig die Frage: Was kommt noch?
Ich hatte schon länger über diesen Schritt nachgedacht.

Frage: War das nächste sportlich enttäuschend verlaufene Turnier in
Katar also maximal der letzte Anstoß?

Antwort: Nein, gar nicht. Ich habe es vor der WM schon gewusst, aber
nur im engsten Umfeld, mit meiner Frau und mit wenigen guten
Freunden, besprochen. In das Turnier bin ich in dem Wissen gegangen,
dass ich danach als Mannschaftsarzt aufhören würde.

Frage: Und nach dem Aus haben Sie dann zeitnah den Bundestrainer und
den DFB informiert?

Antwort: Ich habe zunächst Hansi Flick und Oliver Bierhoff gleich auf
dem Rückflug aus Katar informiert. Das war aber nur ganz kurz, weil
ja doch andere Dinge für die beiden im Vordergrund standen, sodass
der Bundestrainer und ich ein paar Tage später noch einmal
telefoniert haben. Andere Personen habe ich dann mündlich informiert,
aber manche haben es bestimmt erst über die Pressemitteilung
erfahren. 

Frage: Sie haben die Heim-WM 2006 erlebt, die sicherlich ein
emotionales Highlight in Ihrer Amtszeit war. Warum wollten Sie sich
nicht noch die Heim-Europameisterschaft im kommenden Jahr gönnen?

Antwort: Dieses WM-Erlebnis im eigenen Land habe ich ja gehabt. Und
es ist nicht immer so, dass man wiederholte Ereignisse genauso toll
wahrnimmt. Darum trauere ich dem nicht nach. Ich möchte jetzt meine
internationalen Kontakte weiter bespielen und intensivieren. Das
reizt mich. Meine Entscheidung muss zudem nicht heißen, dass ich für
die Europameisterschaft ganz ohne Beschäftigung bin.

Frage: Was nehmen Sie mit aus der Zeit als Nationalmannschaftsarzt?

Antwort: Als Erstes bin ich dem DFB dankbar für diese Zeit. Nicht
jeder hat die Chance, diese Funktion auszuüben. Ich habe tolle Dinge
erlebt. Natürlich steht ganz oben die WM in Brasilien, insbesondere
weil wir sie gewonnen haben. Es war aber auch ein besonderer Rahmen
in Südamerika. Jeder sah die Bedingungen als sehr schwierig an, es
hieß gar, ein europäisches Team könne auf dem Kontinent nicht
gewinnen. Auch die medizinischen Herausforderungen waren größer als
bei den anderen Turnieren. Bei keinem Turnier davor und danach war
ich als Arzt so involviert in die gesamte Vorbereitung wie 2014. 

Frage: Und ansonsten?

Antwort: Ich kann sagen, dass ich wirklich Glück gehabt habe mit den
Turnieren. Mein erstes war gleich weit weg in Japan und Südkorea. Das
war für mich als junger Arzt sehr spannend. Die Heim-WM danach war
sehr emotional geprägt. Die gesamte deutsche Bevölkerung hat das
Turnier mitgetragen. In Südafrika 2010 ist die Mannschaft geboren
worden, die vier Jahre später Weltmeister wurde - ein unheimlich
dynamisches Turnier für uns mit tollen Spielen. Und auch nach 2014
wurde es nicht gleich schlecht. 2016 hätten wir eigentlich
Europameister werden müssen. 2017 wurde dann noch mit einem
Nachwuchsteam der Confed Cup gewonnen. Danach wurde es leider
sportlich schlechter.

Frage: Sie waren nicht der Teamarzt, der bei Länderspielen zu den
verletzten Spielern auf den Platz eilte. Kann man sagen, Sie waren
eher der Arzt im Hintergrund, der für die Mannschaftsapotheke, für
das Anti-Doping-Management und die Leistungsdiagnostik?

Antwort: So kann man das etwa sagen. Meine Zuständigkeit war
klassisch «sportmedizinisch-allgemeinmedizinisch». Auf dem Spielfeld
habe ich wirklich selten einen Einsatz gehabt. Als vor vielen Jahren
mein orthopädischer Kollege mal mit einem anderen Spieler in der
Kabine beschäftigt war, musste ich auf den Rasen laufen. Miroslav
Klose war damals betroffen. Und er sagte dann: «Was machst Du denn
hier?» Ich war quasi für das Medical Management jenseits von
Verletzungen zuständig und schreibe mir dabei auch auf die Fahnen,
den einen oder anderen pseudomedizinischen Unsinn verhindert zu
haben, der immer wieder an uns herangetragen wurde. 

Frage: Wie meinen Sie das?

Antwort: Es ist für eine Nationalmannschaft nicht selten von Wert,
eine klinisch-wissenschaftlich ausgewiesene Person dabei zu haben. So
manche Kritik kommt dann gar nicht erst auf oder kann leichter
gekontert werden. Der DFB-Tross bei Länderspielen besteht rund um die
Mannschaft aber auch aus vielen Betreuern, die erkranken können und
auch Vorerkrankungen mitbringen. Wir Mannschaftsärzte sind insofern
nicht ausschließlich für die Versorgung der Spieler zuständig.

Frage: Sie haben vier Bundestrainer erlebt: Rudi Völler, Jürgen
Klinsmann, Joachim Löw und zuletzt Hansi Flick. Gab es Unterschiede?
Hat sich Ihre Arbeit verändert?

Antwort: Natürlich waren diese Trainer sehr unterschiedliche
Persönlichkeiten. Aber was sich am meisten verändert hat, waren die
Spieler, deren Herkunft und Ausbildung. Ungefähr ab 2008 hatten diese
fast alle die Nachwuchsakademien bei den Bundesligisten durchlaufen.
Sie haben einen ganz anderen Lebensstil erlernt, der wesentlich
sportgerechter ist als in früheren Zeiten. Aber auch Trainer haben
immer großen Einfluss auf die Zusammenarbeit, keine Frage.

Frage: Inwiefern?

Antwort: Am längsten habe ich mit Jogi Löw zu tun gehabt. Rudi Völler

war 2001 der Teamchef, der Trainer war formal ja Michael Skibbe.
Beide haben es einem sehr einfach gemacht, sind ganz tolle Menschen.
Jürgen Klinsmann bedeutete 2004 einen echten Bruch im Management der
Nationalmannschaft. Er hat sehr gepuscht, auf grundlegende
Veränderungen gedrängt. Und es kam sehr viel mehr Personal in das
gesamte Team. Jürgen hat viele Innovationen auf den Weg gebracht,
aber auch verschiedene Konflikte ausgelöst durch möglicherweise nicht
immer beabsichtigte Kompetenzüberlappungen.

Frage: Joachim Löw war danach die Ewigkeit von 15 Jahren
Bundestrainer. Wie war das?

Antwort: Ich habe Jogi unheimlich schätzen gelernt. Das Vertrauen,
das er gegeben hat, war fürs Arbeiten brillant. Ich schätze ihn als
Fußball-Fachmann, soweit ich das beurteilen kann, aber auch als
Mensch und Organisator sehr. Jogi hatte wirklich eine ruhige Hand und
konnte delegieren. Mit Hansi kam dann jemand zurück, den ich schon
aus seiner Zeit als Jogis Assistent kannte, und den ich als
Bindeglied zwischen Trainerstab, Betreuern und Spielern schätzen
gelernt habe. Er kam 2021 in einer neuen Rolle zurück und hat zum
Glück seine Empathie nicht abgelegt, obwohl das als verantwortlicher
Trainer ja durchaus denkbar wäre. 

Frage: War Corona die größte Herausforderung Ihrer Amtszeit? Sie
wurden 2020 Leiter der medizinischen Taskforce für den sogenannten
Sonderspielbetrieb und sind dadurch richtig bekannt geworden. Manch
einer in der Fußballbranche rühmte Sie als Retter des Profifußballs
in Deutschland.

Antwort: Es war auf jeden Fall - auch durch die öffentlichen
Diskussionen - die belastendste Zeit meiner bisherigen Tätigkeit im
Fußball. Corona betraf nicht nur die Nationalmannschaft, sondern den
deutschen Fußball und auch die UEFA, bei der ich Vorsitzender der
Medizinischen Kommission bin. Da entstand schon ein großer Druck. Es
war als Teamarzt auch die nervigste Zeit, weil man viele Dinge nicht
beeinflussen konnte. Plötzlich tauchten Spieler auf, die bei Anreise
oder wenige Tage später positiv getestet wurden. Und schon ist man
als Arzt mittendrin in einem riesigen Trubel von Abstrichen und
Kontaktvermeidungen. Da bekommt man schon gelegentlich ein
ohnmächtiges Gefühl. Trotz aller Vorsichtsmaßnahmen dachte ich im
Teamhotel dann: Hoffentlich wacht morgen früh keiner auf und fängt an
zu husten.

Frage: Wie wird es sein für Sie, wenn nach so langer Zeit Ende März
die ersten Länderspiele ohne Sie auf der deutschen Bank stattfinden?
Werden Sie dann Fernsehzuschauer sein? Oder sogar im Stadion?

Antwort: Das weiß ich noch nicht. Das Gefühl wird sicherlich etwas
komisch sein, wenn ich vorm Fernseher sitzen sollte. Aber irgendwann
muss man den Schritt eben vollziehen. Und es ist doch angenehm, wenn
man den Zeitpunkt selbst bestimmt. Was ich sicherlich vermissen
werde, wird das Gemeinsame im Kreise der Betreuer sein. Es sind immer
noch Menschen dabei wie Physiotherapeut Wolfgang Bunz, TV-Experte Uli
Voigt oder Sportpsychologe Hans-Dieter Hermann, mit denen ich zwei
Jahrzehnte zusammengearbeitet habe. Die gemeinsamen Abende nach
getaner Arbeit und die Diskussionen über das letzte oder nächste
Spiel, ja, das werde ich vermissen.

Zur Person: Tim Meyer, geboren am 30. Oktober 1967 in Nienburg
(Niedersachsen), studierte Medizin und Sport in Hannover und
Göttingen. Von 2001 bis zur WM 2022 in Katar war er Arzt der
Nationalmannschaft. Er ist Ärztlicher Leiter des Instituts für Sport-
und Präventivmedizin der Universität Saarland in Saarbrücken. Er
steht unter anderem den Medizinischen Kommissionen des DFB und der
UEFA vor.

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