Spahns Corona-Rückschau - Verteidigung und Versäumnisse Von Sascha Meyer, dpa

Normalerweise schreiben Gesundheitsminister außer Dienst eher keine
Erinnerungen. Jens Spahn hat es gemacht und liefert mit etwas Abstand
seine Sicht auf eine bis heute heftig umstrittene Pandemiepolitik.

Berlin (dpa) - Eigentlich beschäftigt Jens Spahn schon wieder die
nächste Krise, diesmal in der Opposition. Aber abseits der Debatten
um Energieversorgung und Inflation geht es ihm jetzt auch noch einmal
um das große Thema, das ihn politisch an die Grenzen brachte wie kein
anderes - und sein öffentliches Bild bis heute prägt: Corona. Spahn,
42, Ex-Bundesgesundheitsminister von der CDU, hat ein Buch über das
Krisenmanagement in den ersten beiden Pandemie-Jahren 2020 und 2021
geschrieben. Es ist ein Rückblick im Erklär- und Verteidigungsmodus,
aber auch eine Bilanz mit Problemen und manchen eigenen Fehlern.

«Wir werden einander viel verzeihen müssen» heißt das Buch, das ein

Jahr nach dem Machtverlust der Union bei der Bundestagswahl
herauskommt. Der Titel ist angelehnt an eine Formulierung, mit der
Spahn im April 2020 im Bundestag um Verständnis für schwierige
Entscheidungen in der «Jahrhundertkrise» geworben hatte. Nach dem
Abschied vom Amt mit allen Kämpfen und Anfeindungen im Dezember 2021
sattelte er um zum Fraktionsvize für Wirtschaft und Klimaschutz.
Öffentlich zur Corona-Politik äußerte sich der Minister a.D. bewusst

nicht mehr.

Nun also eine Rückschau auf rund 300 Seiten. Es gehe ihm um Lehren
aus dieser historischen Phase, sagte Spahn bei der Buchvorstellung in
Berlin, etwa mehr Krisenvorsorge und europäische Eigenständigkeit. Um
ein Plädoyer, bei zusehends aufgeheizten Kontroversen «erbittlich»
statt unerbittlich zu sein. Und, für sich selbst, auch um einen
Schlussstein für die intensivste und forderndste Zeit seines Lebens.

Unter dem Strich rechtfertigt Spahn den Corona-Kurs - nicht in jedem
Punkt, doch alles in allem gesehen. «Ja, wir sind vergleichsweise gut
durch diese schwere Zeit gekommen», schreibt er. «Aber eben nicht so
gut, wie es hätte sein können - und manches Mal auch müssen.»

Als «besonderes Versäumnis» nennt er, «dass wir es nicht geschafft

haben, die Kinder und Jugendlichen so vor den Folgen dieser Pandemie
zu schützen, wie wir es hätten tun sollen». Im Rückblick denke er,

dass die pauschale Schulschließung in allen 16 Ländern im März 2020
zumindest zu diesem Zeitpunkt nicht nötig gewesen wäre. Insgesamt
seien aber auch harte Maßnahmen hierzulande weniger einschneidend als
anderswo in Europa angesetzt worden. Freiheitseinschränkungen seien
eine bittere Medizin gewesen, «aber eben auch eine wirksame».

Beim Krisenmanagement sei er wegen weniger Bundeskompetenzen faktisch
ein «koordinierender Bittsteller» bei Ländern und Kommunen gewesen,
schreibt Spahn - aber trotzdem politisch in der Verantwortung. Viele
Interviews habe er gegeben und gedacht: «Viel erklären hilft viel.»
In einer solchen Krise müsse dann aber jeder Satz sitzen, was niemand
schaffe. Klüger wäre daher gewesen, «reduzierter» zu kommunizieren.


Sein Verhältnis zur damaligen Kanzlerin sei in der Krise «intensiver
geworden», berichtet Spahn. Auch wenn Angela Merkel (CDU) und er
nicht immer einer Meinung gewesen seien. «Ich war «Team Vorsicht»,
und sie war «Team ganz besonders vorsichtig».» Kritisch äußert er

sich zu Merkels Rolle, als der Koalitionspartner SPD Anfang 2021 auf
Eskalationskurs ging und ihn mit einem Fragenkatalog zu Impfungen
unter Druck setzte. Das Manöver habe funktioniert, und damals sei ein
Grundstein für die spätere Wahlniederlage der Union gelegt worden.

Die richtige Reaktion wäre eine geschlossene Zurückweisung durch CDU
und CSU mit «klarer Ansage» der Kanzlerin gewesen. Merkel habe aber
«selbstverständlich» eine Beantwortung der Fragen zugesagt.

Spahn schneidet im Buch auch Themen an, die am Rande der Krise
einigen Wirbel auslösten. Dass er im Oktober 2020 - in Zeiten von
Corona-Alltagsregeln - zu einem Abendessen nach Leipzig fuhr, bei dem
um Spenden für die CDU geworben wurde, sei ein Fehler gewesen. «Als
Gesundheitsminister in so einer Lage hat man eine Vorbildfunktion.
Die habe ich an diesem Abend nicht erfüllt.» Spahn weist im Buch das
«Gerücht» zurück, die Spenden hätten mit 9999 Euro einen Euro unt
er
der meldepflichtigen Grenze gelegen. «Das war falsch, aber ich habe
es nicht korrigiert.» Zur Höhe der Spenden macht er keine Angaben.

«Politisch unklug, unsensibel» sei auch der Zeitpunkt für den Kauf
eines Hauses in Berlin im Sommer 2020 gewesen, «das später wegen des
vergleichsweise hohen Werts der Immobilie als «Villa» in die
Schlagzeilen» gekommen sei. Den Kauf bereue er trotz allem nicht.

Über den heutigen Kanzler Olaf Scholz (SPD) schreibt Spahn, der
damalige Vizekanzler habe sich in einer Ministerpräsidentenkonferenz
wie häufig in dieser Runde «eher passiv-abwartend» verhalten. Mit
seinem Nachfolger als Minister, Karl Lauterbach (SPD), habe er über
viele Jahre gut zusammengearbeitet. «Er und ich, wir respektieren
uns.» Nach dem Rollentausch hätten beide verabredet, ihre Arbeit
nicht gegenseitig zu kommentieren. Das habe gut geklappt - als einmal
nicht, habe Lauterbach tags drauf angerufen und sich entschuldigt.

Spahn schildert persönlich, wie er in der Dauer-Drucksituation und
nach vielen Scharmützeln am 8. März 2021 an einen «Tiefpunkt» in de
r
Krisenzeit geriet. «Ich war durch. Ganz einfach durch.» Dass es dann
auch ein Gefühl von Befreiung gewesen sei, das Ministeramt nach zwei
harten Corona-Jahren abzugeben - nein, das könne er nicht sagen. Er
habe zunächst auch Traurigkeit empfunden. «Ich hätte es gerne noch
als Gesundheitsminister erlebt: das Ende der Pandemie.»