Historiker: 19 000 starben in Dienstzeit angeklagter KZ-Sekretärin

Während Irmgard F. im KZ Stutthof arbeitet, erfasst die
Lagerbürokratie mehr als 19 000 Todesfälle. Im Prozess gegen die
Ex-Sekretärin weist ein Historiker auf die Nähe ihres damaligen
Arbeitsplatzes zum Mordgeschehen hin. Der Verteidiger protestiert.

Itzehoe (dpa/lno) - Während der Dienstzeit der in Itzehoe vor Gericht
stehenden ehemaligen KZ-Sekretärin kamen nach Aussage eines
Historikers mindestens 19 278 Gefangene in Stutthof und seinen
Außenlagern ums Leben. Die Zahl beziehe sich auf die Zeit zwischen
dem 1. Juni 1943 und dem 23. April 1945, als die Angeklagte als
Schreibkraft in der Kommandantur arbeitete, erklärte der
Sachverständige Stefan Hördler am Dienstag vor dem Landgericht.

Grundlage seiner Angabe seien die Einlieferungs- und Sterbebücher des
Lagers sowie die Meldungen des KZ-Arztes, sagte er. Er gehe davon
aus, dass mindestens die Hälfte der Toten im Hauptlager starb, wo
sich die Kommandantur von Stutthof befand. Ein großer Teil der Opfer
seien jüdische Frauen gewesen. Sie starben an Hunger, einer
Fleckfieber-Epidemie, wurden zu Tode geprügelt, erschossen oder
vergast.

In dem Prozess in Itzehoe angeklagt ist die 97 Jahre alte Irmgard F.
Sie soll von Juni 1943 bis April 1945 als Zivilangestellte in dem
deutschen Konzentrationslager bei Danzig gearbeitet haben. Die
Staatsanwaltschaft wirft ihr vor, durch ihre Schreibarbeit Beihilfe
zum systematischen Mord an über 11 000 Gefangenen geleistet zu haben.

Zu Beginn der Verhandlung würdigte der Nebenklagevertreter Rajmund
Niwinski am Dienstag seine verstorbene Mandantin Halina Strnad. Sie
sei am vergangenen 6. September in Australien gestorben, sagte der
Anwalt. Die 1930 in Polen geborene Jüdin hatte am 14. Juni als Zeugin
von ihren schrecklichen Erlebnissen in Stutthof berichtet. Mit Strnad
sind von den ursprünglich 31 Nebenklägern bereits drei gestorben.
Strnad war Anfang 1945 auf einen Todesmarsch getrieben worden, hatte
dabei aber fliehen können.

Das KZ sei am 25. Januar, als die sowjetische Armee nur noch gut 40
Kilometer entfernt war, zur Hälfte evakuiert worden, erklärte Hördler

am Dienstag. 11 500 Häftlinge seien in 41 Marschkolonnen in Richtung
des 140 Kilometer entfernten Lauenburg in Pommern (heute Lebork)
getrieben worden. Weil die Rote Armee das Gebiet schließlich
umzingelte, habe ein Teil der Häftlinge wieder nach Stutthof
zurückkehren müssen.

Am 25. und am 27. April habe es eine weitere Evakuierungsaktion
gegeben. 4500 Häftlinge seien von SS-Leuten auf die Halbinsel Hel
geführt und von dort mit Schiffen über die Ostsee nach
Schleswig-Holstein gebracht worden. Laut Befehl der SS-Führung
sollten kranke Häftlinge zurückgelassen werden. Wer auf dem Marsch
nicht mehr weiter konnte, sollte erschossen werden.
Schleswig-Holstein habe nach Vorstellung der Nazis die «Festung Nord»
werden sollen. Es habe Überlegungen gegeben, im noch besetzten
Norwegen ein neues KZ-System zu errichten, sagte Hördler.

Bereits seit Herbst 1944 sei die Zahl der Toten in Stutthof steil
angestiegen. Im September 1944 seien 308 Todesfälle verzeichnet
worden, im Dezember über 3600 und in den ersten elf Januartagen 2906.
Allein 124 Jüdinnen starben laut einer Todesbescheinigung des
KZ-Apothekers am 9. Januar 1945, angeblich an «Herz - allgemeine
Körperschwäche». In den SS-Dokumenten wurden die Opfer als
«Judenweiber» bezeichnet. Kommandant Paul Werner Hoppe ordnete die
Einäscherung der Toten an. Dieser Befehl sei wie die
Evakuierungsbefehle vermutlich in der Kommandantur abgezeichnet
worden, wo die Angeklagte damals arbeitete und auch übernachtete,
erklärte Hördler.

Verteidiger Wolf Molkentin warf dem Sachverständigen nach dessen
Vortrag vor, er hebe nur die seiner Ansicht nach belastenden Dinge
hervor. Er habe jedoch wie die Staatsanwaltschaft die Pflicht, auch
entlastende Erkenntnisse vorzutragen. «Das ist aus meiner Sicht ein
bedenklicher Vorgang», sagte der Verteidiger. Er betonte, dass
niemand im Saal die Verbrechen der SS in Stutthof bezweifle.