Volkskrankheit und doch oft unterschätzt: Kopfschmerzen und Migräne Von Yuriko Wahl-Immel, dpa
Jeden zweiten Erwachsenen plagen Kopfschmerzen. Arbeitsausfälle durch
Migräne verursachen Milliardenkosten. Zum Europäischen Migräne- und
Kopfschmerztag zeigt sich auch: Zu wenig Betroffene werden ärztlich
behandelt, beim Wissen über die Erkrankung ist viel Luft nach oben.
Kiel/Dortmund (dpa) - Stechend oder drückend. Sporadisch, regelmäßi
g,
manchmal überfallartig. Kopfschmerzen sind eine Volkskrankheit, von
der rund 47 Millionen Erwachsene zumindest zeitweise geplagt werden.
Bei 25 Millionen Menschen handelt es sich um Spannungskopfschmerz,
bei 18 Millionen Betroffenen um Migräne, wie Hartmut Göbel, Gründer
und Chefarzt der renommierten Schmerzklinik Kiel sagt. Besonders
stark beeinträchtigt eine chronische Migräne: Ein bis zwei Prozent
der Bevölkerung - also bundesweit 1,66 Millionen Menschen - leiden an
mindestens 15 Tagen im Monat unter erheblichem Migräneschmerz, der
den gesamten Körper in Mitleidenschaft ziehen kann.
Zum Europäischen Kopfschmerz- und Migränetag (12.9.) weisen Experten
darauf hin, dass es beim Wissen über die Erkrankungen noch viel Luft
nach oben gebe. «Migräne steht weltweit an zweiter Stelle der am
meisten beeinträchtigenden Krankheiten», schildert Göbel. Sie trete
vor allem zwischen dem 40. und 50. Lebensjahr auf, bei Frauen zwei-
bis dreimal häufiger als bei Männern. Aber auch bei Kindern und
Jugendlichen komme sie zunehmend vor.
Migräne und chronische Kopfschmerzen gehören zu den häufigsten
Gründen für kurzfristige Arbeitsunfähigkeit, betont der Neurologe und
Psychologe. Vor allem bei chronischer Migräne sei der Leidensdruck
enorm. Und: «Arbeitsunfähigkeit durch Migräne allein kostet 3,1
Milliarden Euro pro Jahr in Deutschland.» Plus Produktivitätsverlust
nichtbezahlter Arbeit - in Haushalt, Kindererziehung oder bei der
Angehörigen-Pflege.
Schmerz führe zu Einschränkungen im Berufs- und Sozialleben,
berichtet Charlie Gaul, Generalsekretär der Deutschen Migräne- und
Kopfschmerzgesellschaft. Den Betroffenen sieht man die Krankheit
nicht an, sie ziehen sich bei Attacken zurück, oft ins abgedunkelte
Zimmer. Viele sind extrem licht-, lärm- und geruchsempfindlich, sie
kämpfen mit Übelkeit, Erbrechen, Schwindel, Kreislaufschwäche. Manche
haben mit Störungen wie Lichtblitzen oder verschwommener Sicht - Aura
- zu tun.
Die chronisch Betroffenen setzen sich oft unter Druck, erleben sich
selbst als «unzuverlässig» und haben vor anstehenden wichtigen
Ereignissen Angst vor der nächsten Attacke, weiß Neurologe Gaul. Der
Leistungsdruck sei allgemein hoch, «Funktionieren» werde erwartet.
Migräne sei aber weniger schambesetzt als noch vor 20 Jahren.
«Betroffene machen die Erfahrung, dass sie auf mehr Verständnis
treffen, wenn sie offen kommunizieren.» Allerdings sei dieser Zustand
längst noch nicht überall erreicht.
«Das Wissen über die Natur und den Verlauf der Migräne ist im Alltag
bei Nicht-Betroffenen gering», meint Göbel, der für seine Arbeit mit
zahlreichen Preisen ausgezeichnet wurde. Es kursierten viele Mythen
über Migräne. Die Erkrankung sei in der sozialen Welt mit einem Makel
verbunden. Zugleich haben Kopfschmerzen und Migräne - eine
neurologische, genetisch verankerte Erkrankung - zugenommen.
Dennoch: «Migräne ist unterdiagnostiziert und unterbehandelt.» Ein
Problem auch, weil bei starker Migräne zusätzlich ein erhöhtes Risiko
für Depressionen, Herzinfarkt oder auch Schlaganfall besteht.
Medikamente könnten nicht heilen, aber helfen. Bei häufiger Migräne
seien mehrere vorbeugende Medikamente sehr wirksam, erläutert Göbel.
Darunter auch eine Gruppe von Medikamenten, die als Antikörper
wirken. Bei chronischer Migräne sei seit 2010 vorbeugend Botox als
Injektion zugelassen, was sich in Studien als «signifikant wirksam»
erwiesen habe. Bei Mitteln gegen Akutschmerz - etwa den Triptanen -
sollten weniger als zehn Tabletten im Monat eingenommen werden, sonst
könne sogar Schmerz ausgelöst werden, mahnen Mediziner.
Bei Übergebrauch sei das Risiko groß, dass der Schmerz chronisch
werde, warnt Schmerztherapeut Gaul. Ein Teufelskreis. Göbel zufolge
leiden geschätzt drei Prozent der Bevölkerung an Kopfschmerzen als
Folge von solchem Übergebrauch. Die Gesellschaft für Neurologie
betont zudem: Oft bleiben nach Covid-19 noch länger Kopfschmerzen
bestehen - auch dann sei der zu häufige Griff nach Schmerztabletten
der falsche Weg.
Bei Migräne sind Verhaltenstherapie, Entspannungsübungen und
körperliche Aktivitäten wichtig, sagt DMKG-Sprecher Gaul. Es gebe
individuell verschiedene Migräne-Auslöser - Trigger - wie
Hormonschwankungen, einen gestörten Wach-Schlaf-Rhythmus,
Wetterwechsel oder auch Stress mitsamt folgendem Stressabfall. «Alles
zu Schnelle, alles zu Viele, alles zu Plötzliche, alles Impulsive
kann Migräneattacken auslösen», ergänzt Göbel. Früher habe man
bestimmte Nahrungsmittel wie Käse, Zitrusfrüchte oder Schokolade als
Trigger verdächtigt. Es habe sich aber gezeigt, dass bereits der
Hunger nach diesen Speisen Ankündigungssymptome einer Migräne seien.
Ein Defizit: Weltweit werden im Mittel während des sechsjährigen
Medizinstudiums nur etwa zwei Stunden für Informationen über
Kopfschmerzdiagnose und -behandlung angeboten, bedauert Göbel. Seit
diesem Wintersemester gibt es aber erstmals in Deutschland einen
berufsbegleitenden Masterstudiengang «Migräne und Kopfschmerzmedizin»
- an der Uni Kiel und entwickelt mit Göbels Schmerzklinik.
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