Suizid einer österreichischen Ärztin entfacht Debatte um Hass im Netz Von Matthias Röder, dpa

Auch Tage nach dem Suizid einer im Kampf gegen Corona engagierten
Ärztin in Österreich ebbt die Debatte über Hass im Netz nicht ab. Der

Fall wirkt wie ein mahnendes Beispiel. Wer hat versagt?

Wien (dpa) - Bei manchen Menschen fließen Tränen. Die allermeisten
halten still ihr leuchtendes Smartphone oder eine Kerze in die Höhe.
Die Betroffenheit der Menge ist greifbar. Einige Tausend Menschen
versammelten sich am Montagabend für das Lichtermeer vor dem Wiener
Stephansdom, um der Ärztin Lisa-Maria Kellermayr zu gedenken. Die
Medizinerin aus Seewalchen am Attersee in Österreich hatte sich im
Kampf gegen Corona engagiert und war im Internet zum Hass-Objekt der
Impfgegner geworden. Daran - das legen von Medien veröffentlichte
Abschiedsbriefe nahe - ist sie zerbrochen.

Der Suizid der 36-Jährigen vor wenigen Tagen hat die Debatte über
Hass im Netz neu angefacht. Kein Geringerer als Österreichs
Bundespräsident Alexander Van der Bellen nahm das Drama zum Anlass
einer Mahnung. «Beenden wir dieses Einschüchtern und Angst machen»,
schrieb das Staatsoberhaupt auf Twitter. Er selbst legte zusammen mit
seiner Frau am Montagabend Blumen vor der Praxis der Toten nieder.

Trotz der inzwischen etablierten gesetzlichen Regelungen gegen Hass
im Netz auf nationaler und EU-Ebene ist nach Erfahrungen von Experten
die Online-Aggression noch nicht annähernd im Griff. Die auf das
Gebiet spezialisierte Beratungsstelle «Zara» in Wien hat in den
vergangenen fünf Jahren 8000 Fälle registriert. Zeitweise sei Corona
bei den Hass-Postings das Hauptthema gewesen, sagt Sprecher Ramazan
Yildiz über die tiefe gesellschaftliche Kluft angesichts der
Pandemie. Zumindest punktuell stellten die «Zara»-Mitarbeiter einen
Unterschied beim Ermittlungseifer der Behörden fest. «Natürlich ist
es immer mal wieder so, dass man bei Online-Delikten andere
Reaktionen bekommt als bei Offline-Delikten», sagt Yildiz.

Aber auch für die Betroffenen sei ungeachtet der gesetzlichen
Fortschritte das Verfolgen ihrer Verfolger oft mühsam. «Vielen ist es
zu emotional, finanziell und zeitlich zu aufwendig», so Yildiz
weiter. Im Fall Kellermayr läuft nach Angaben der Staatsanwaltschaft
Wels weiterhin ein Ermittlungsverfahren gegen Unbekannt. Geprüft wird
derzeit, ob der Suizid Kellermayrs etwas an den Zuständigkeiten
ändert. Aufgrund vergangener Höchstgerichtsurteile sind zumindest im
Fall von gefährlichen Drohungen die Behörden im Herkunftsort der
Täter zuständig. Zumindest einer davon soll in Deutschland sitzen.

Die Polizei wehrt sich gegen Vorwürfe, sie habe zu lax auf die
Drohbriefe reagiert, die extreme Gewaltandrohungen enthielten. Seit
November 2021 sei die Ärztin polizeilich beraten worden, heißt es in
einer Stellungnahme. «Es kam in den darauffolgenden Wochen zu
zahlreichen weiteren Kontaktaufnahmen und Gesprächen. Die
polizeilichen Schutzmaßnahmen rund um die Ordination wurden drastisch
erhöht. Dabei wurden alle gesetzlich möglichen Maßnahmen
ausgeschöpft.» Bei der Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft
(WKStA) in Wien ist jetzt eine Anzeige eingegangen, in der den
Behörden Untätigkeit vorgeworfen wird.

Die Ärztekammer Oberösterreich erklärte, der Ärztin sei jede Hilfe

angeboten worden, zu der man in der Lage gewesen sei. Erst jüngst sei
ein Plan besprochen worden, wie das Fortbestehen der Praxis - die
Kellermayr vor wenigen Wochen geschlossen hatte - gesichert werden
könne.

Kellermayr hatte sich nach eigenen Angaben selbst über Monate aus
eigener Tasche Sicherheit erkauft. Für entsprechende Vorkehrungen,
etwa einen sicheren Rückzugsraum, habe sie rund 100 000 Euro bezahlt,
schrieb sie auf ihrer Internetseite.

«Ich glaube, dass gemeinsam Trauern einer Gesellschaft gut tut»,
sagte der Initiator der Mahnwache vor dem Dom, Daniel Landau, der
österreichischen Nachrichtenagentur APA. Er kannte Kellermayr
persönlich, hatte sie erst Mitte Juli in ihrer Praxis getroffen.
Dabei hätten sie auch über den Glauben gesprochen, das sei der
Medizinerin wichtig gewesen, schilderte Landau. Am Montagabend
läuteten die Glocken des Stephansdoms für sie.